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0078 - Der Todeszug

0078 - Der Todeszug

Titel: 0078 - Der Todeszug
Autoren: Walter Appel
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Der Güterzug fuhr von Chieti her durch die nächtlichen Abruzzen. 46 Waggons und Güterwagen ratterten und dröhnten hinter der Dampflok über die Schienen. Am Morgen sollte die Ladung in Rom am Güterbahnhof entladen werden.
    Bis dahin hatte der Lokführer Aldo Tuzzi, der Heizer und der ebenfalls mitfahrende Bahnarbeiter noch eine lange, eintönige Nacht vor sich. Der nächste Aufenthalt war in Celano vorgesehen, wo drei Waggons abgekoppelt und dafür zwei andere angehängt werden sollten.
    Aldo Tuzzi saß auf dem Lokführersitz und blickte konzentriert auf die Strecke. Von Zeit zu Zeit kontrollierte er das Manometer. Heizflächenbelastung, Steuerung, Geschwindigkeit und andere Werte konnten er und sein Heizer ebenfalls an den Instrumenten ablesen.
    Tuzzi kannte die Strecke wie seine Westentasche. Er wußte, wann sie sich Signalen und Langsamfahrstellen näherten.
    Lokführer und Heizer tranken Kaffee aus der Thermosflasche, rauchten gelegentlich eine Zigarette und unterhielten sich. Der Bahnarbeiter fuhr hinten in einem Arbeitswagen mit und hatte sich wahrscheinlich aufs Ohr gehauen.
    »Diese Strecke fahre ich jetzt schon seit über dreißig Jahren«, sagte Tuzzi. »Mir persönlich ist nie etwas besonders Aufregendes passiert in all der Zeit. Von dem großen Zugunglück vor 15 Jahren habe ich nur mitgekriegt, daß der ganze Fahrplan umgekrempelt wurde.«
    Er nahm einen Zug aus seiner Zigarette und seufzte: »Manchmal wünsche ich mir eine von den superschnellen E- oder Dieselloks fahren zu können. Ich möchte nach Rimini, Mailand, Florenz und Venedig. So ist es immer nur der gleiche Trott mit der alten Dampfchaise.«
    Der Heizer, zehn Jahre jünger als der dreiundfünfzigjährige Tuzzi und eine viel simplere Natur, hatte nie solche Träume gehabt.
    »Sei doch froh, daß du Arbeit hast, und daß nichts Besonderes vorfällt, Aldo«, antwortete er. »Denn die außergewöhnlichen Sachen wirken sich meistens unangenehm aus, zumindestens für unsereinen.«
    Er fuhr fort, nach Tuzzis Abschweife von seinem Garten zu erzählen, von den paar Äckern, die er neben seiner Arbeit bei der Bahn noch bewirtschaftete, und von dem Streit, den er mit einem Anlieger wegen einer Ackergrenze hatte.
    »Jedesmal pflügt der Kerl eine Furche mehr auf mein Gelände herüber«, sagte er. »Jahr für Jahr dasselbe. Und den Grenzstein versetzt er auch.«
    »Warum zeigst du ihn denn nicht bei den Carabinieri an?«
    »Das gibt mir zuviel Scherereien und Papierkrieg. Ich pflüge einfach wieder zu ihm hinüber und setze den Grenzstein alle paar Jahre zurecht. Damit hat sich der Fall.«
    Der Lokführer schüttelte den Kopf. Automatisch überblickte er die Instrumente. Es war alles in Ordnung. Tuzzi sah auf seine Uhr.
    23 Uhr 10, also noch eine gute halbe Stunde bis Celano. In etwa zwanzig Minuten sollte der Nachtzug nach Pescara aus der anderen Richtung passieren.
    Die Strecke verlief hier zweigleisig. In vielen Windungen führte sie durchs Gebirge, und ab und zu durch einen Tunnel.
    Endlos zogen sich die Schienenbänder dahin. Der Dampf aus dem Schornstein wehte über die lange Reihe der Waggons und Wagen.
    Tuzzi schaute wieder nach vorn. Außerhalb des Lichtbereichs der Scheinwerfer war nicht viel zu erkennen. Aber da gab es auch bei Tag außer Steinen und Büschen nichts zu sehen. Nur ab und zu einmal ein entlegenes Bergbauerngehöft.
    Doch plötzlich sprang Tuzzi auf wie elektrisiert. Dabei schüttelte er dem Heizer den heißen Kaffee über die Hose.
    »He!« beschwerte sich der. »Aldo, was hast du denn?«
    Der Lokführer betätigte das Warnsignal.
    »Da ist einer vor uns auf den Schienen!« schrie er.
    Der Heizer sprang hoch. Während die Dampfpfeife losschrillte, sah auch er die groteske Gestalt auf den Schienen, einige Hundert Meter vor der Lok. Der Güterzug nahm gerade eine Steigung und fuhr deshalb langsamer.
    Trotzdem verringerte die Entfernung sich rasch.
    Auch der Heizer erkannte die bleiche, fast durchscheinende Gestalt. Wie ein Gespenst sah sie aus, vielleicht zwei Meter hoch, aber mit deutlich erkennbaren Armen und Beinen. Sie schien auf den Gleisen zu hüpfen und zu tanzen, sie fuchtelte mit den Armen.
    Die Dampfpfeife gellte. Der Lokführer hatte sie arretiert, er griff zum Notbremsventil.
    Der Güterzug war inzwischen bis auf 300 Meter an die Gestalt herangekommen.
    »Nicht bremsen, Aldo!« schrie der Heizer da. »Das ist kein Mensch!«
    »Kein Mensch?« fragte der Lokführer perplex. »Ja, was denn sonst?«
    »Das weiß ich
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