Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
Vom Netzwerk:
Hoteldiener zurief: »Kann ich Mr. Carter noch etwas von Ihnen bestellen?«
    Helena sah ihn einen Moment an, dann schüttelte sie den Kopf und stieg auf.
    Innerhalb von Sekunden war sie bis auf die Haut durchnässt, und auch Shakti schüttelte sich unwillig, trabte aber brav an. Der Wind trieb ihr den Regen wie feine Nadelstiche ins Gesicht, Wasser floss über ihre Haut, in einer seltsamen Mischung aus Wärme und Kühle, rann unter den nassen Stoffen bis in die eng anliegenden Stiefel. Blitze zuckten, Donner krachten, doch sie fürchtete sich nicht, fühlte sich eins mit den Elementen, berstend vor Lebendigkeit. Ihr ganzes Sein war auf den nächsten Schritt konzentriert, denn die Straßen und Wege waren rutschig, schlammig, übersät von lockerem Geröll. Bäche schossen ihnen von den Anhöhen mit den dichten, nachtschwarzen Wäldern sprudelnd entgegen. Mehr als einmal geriet Shakti ins Straucheln, glitt mit einem Huf aus, gab der unterspülte Weg unter ihrem Gewicht nach, und Helena redete beruhigend auf sie ein, lockte sie weiter vorwärts, lenkte sie nach ihrem Gefühl, immer weiter vorwärts. Nach Hause … nach Hause …
    Und sie betete, zu Vishnu, zu Krishna, betete, dass sie Shikhara noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen würden, denn schon jetzt, im Dämmerlicht der schweren Wolken, in den Schatten der Bäume, war der Weg kaum zu erkennen. Zu beiden Seiten erstreckten sich Teefelder, dunkel glänzende Flächen, und Helena glaubte, die Sträucher atmen zu hören, gierig den Regen aufsaugend, der ihnen das schwere Aroma der Herbsternte geben würde. Schmutzig grau begann sich der Abend über die Hügel zu legen, und als schwarzer Schattenriss tauchte das Eingangstor von Shikhara vor ihr auf. Offen, ohne Wächter.
    Helena zügelte ihre Stute und hielt verwirrt an. Das Haus lag im Dunkeln, stumm, blind, abweisend. In keinem einzigen Fenster brannte Licht. Sie fröstelte, und ihr Mut sank. Was tat sie hier? Einen schrecklichen Augenblick des Verlorenseins lang zögerte sie, dann trieb sie Shakti vorwärts, entschlossen auf dem Kiesweg zum Haus vorwärts preschend.
    Hastig stieg sie ab und eilte die Stufen empor. Die Eingangstür war unverschlossen, die Halle nur schwach beleuchtet. Gespenstisch still war es, das Haus leer und tot, wie in einem Albtraum, und die Blitze, die es in Abständen kurz erhellten, ließen es wie ein Spukhaus wirken. Helena schluckte. Sie hätte nicht sagen können, wann sie sich das letzte Mal so entsetzlich allein und verlassen vorgekommen war. Dies war nicht das Zuhause, nach dem sie sich gesehnt, für das sie diesen waghalsigen Ritt auf sich genommen hatte. Sie wollte rufen, nach Yasmina, nach Mohan, nach Ian, aber sie wagte es nicht, als fürchtete sie, in den Ecken verborgene Dämonen zu wecken.
    Langsam stieg sie die Treppe hinauf; ihre schmutzverkrusteten Stiefel hinterließen auf dem Läufer dunkle Spuren, doch es kümmerte sie nicht. Oben war alles, wie sie es vergangene Nacht verlassen hatte; auf ihrem Bett lag sogar noch der Wirrwarr durcheinander geworfener Kleidungsstücke. Ratlos stand sie einen Augenblick da. War es das gewesen – alles verloren, alles zu Ende?
    Das Rauschen des Monsuns lockte sie nach draußen, auf den Balkon. Und da saß Ian.
    Eine kleine Lampe beleuchtete fahlgelb und zittrig den überquellenden Aschenbecher, das leere Glas, die Flasche, in der nur noch wenig übrig war, ließ Schatten über Ian huschen, der in den strömenden Regen hinausstarrte.
    Ein Blitz zuckte auf, noch einmal, und in diesem bläulichen Lichtfetzen sah sie, wie erschöpft er wirkte, wie leer, als hätte ihn die zornige Energie, die ihn immer angetrieben hatte, verlassen. Wie gebannt stand sie so da, betrachtete den Mann, der sie unter Zwang und gegen ihren Willen in sein Leben, seine Welt geholt hatte, der ihr so viele Momente des Glücks und so viele des Leids beschert hatte, und sie ahnte, dass auch er versuchte, gegen sein Schicksal zu kämpfen.
    Als hätte er ihre Blicke gespürt, hob er den Kopf und sah sie an. In den Wolken flammte es auf, und in diesem kurzen Moment sah Helena die Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit in seinen Augen, sah bis auf den Grund seiner Seele, und sie begann zu zittern, vor Kälte, vor Nässe, vor Wut, vor Trauer und vor dem überwältigenden Gefühl an Liebe, das sie durchfloss und ihr den Atem nahm.
    »Was suchst du hier?« Seine Worte waren rau, abweisend, doch sie ließ sich davon nicht einschüchtern. Nicht mehr.
    »Dich«, entgegnete sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher