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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis
Autoren: Philip Marsden
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1.
    D a war ein Haus
, das ich als Kind kannte, mit einer grauen Fassade vor steil abfallendem Rasen und einem Blick aus der Vogelperspektive auf einen Hafen in Cornwall. Das Haus lag etwas außerhalb des Dorfs in einem Ulmenrund. Vom Rasen aus blickte man den Abhang hinunter und über Baumwipfel hinweg auf einen Granitkai. Der Kai ringelte sich um die Fischtender, die im Schutz seiner Mauern vor sich hin dümpelten. Dahinter weitete sich die Bucht zu einem Paar kieferngesäumter Landzungen, einer Art Auffahrt zur endlosen Ebene der offenen See.
    Vor dem Haus stand eine Araukarie. Sie war hoch und sehr gerade gewachsen, unverzweigt bis kurz vor der Spitze, wo ein Brakteengewirr aus dem Stamm hervorbrach. Der Baum war vor hundertfünfzig Jahren von einem Kapitän gepflanzt worden. Sein letzter Auftrag war gewesen, ein Mitglied der portugiesischen Königsfamilie nach Südamerika ins Exil zu bringen. Er war dafür mit einem Kästchen Gold und einem Beutel Araukariensamen belohnt worden. Von dem Gold hatte er das Haus gebaut. Die Samen säte er davor aus. Er nannte das Haus Braganza.
    Jedes Jahr gingen wir für ein paar Wochen in ein Sommerhaus im Dorf unterhalb von Braganza. Es war August. Die Bucht lag im Dunst. Weiße Segel zogen über sie hin. Der Chor der Möwen war erbarmungslos. Der Rasen von Braganza, wohin wir sonntags zum Tee gingen, war so dürr wie eine Wüste.
    Viele Jahre war Cornwall das einzige Ausland, das ich kannte. Wenn wir auf einer alten, elefantenhautfarbenen Steinbrücke über die Tamar fuhren, schloß ich die Augen und redete mir ein, es dauere zwei Tage; wenn ich sie wieder aufmachte, wäre ich bestimmt auf einer unbekannten fernen Insel. Aber es funktionierte nie. Cornwall war zwar nicht ganz wie England, aber es war auch kein richtiges Ausland.
    Ich wußte schon, wie das Ausland sein würde; es würde sein wie Braganza. Dort war alles anders   – die Klänge, das Essen, die Gerüche. Die Stimmen, die man auf dem Treppenabsatz aus halbgeöffneten Türen hörte, waren fremdländisch. Ungewöhnliche Dinge hingen an den Wänden   – Wolfsfelle, Bärenfelle, Hirschfänger, Musketen mit samtbeschlagenem Schaft und Ikonen. Im Treppenhaus gab es handkolorierte Karikaturen, gruselige Holzschnitte von Schuhe flickenden Flickschustern und schneidenden Schnittern, und auf hohen Marmorsockeln hockte, wie Junghähne auf der Sitzstange, eine stattliche Schar silberner Samoware.
    Braganza war ein großes Haus, und es gab Teile, die ich nie zu Gesicht bekommen habe. Doch ich wußte, daß in seinen entlegeneren Winkeln tiefe Traurigkeit herrschte. Keine englische Traurigkeit   – so etwas Verdrängtes, Weggeschobenes von der Sorte »rühr nicht daran, Liebes«; dies war eine Traurigkeit ohne Scham, voll Würde, eine Traurigkeit, die sich ihren Abgründen stellte, Traurigkeit, die in einer Wahrheit wurzelte   – eine Traurigkeit, der auch Freude entspringen konnte.
    Ihren Namen kannte ich nicht. Aber ich spürte, daß sie etwas mit den gerahmten Fotos auf einer Vitrine im Salon zu tun hatte: die streng blickenden Frauen, die Söhne mit ihren wilden Haarschöpfen und verwegenen Schnurrbärten,die Familiengruppen beim Picknicken im Wald. Sie hatte wahrscheinlich etwas zu tun mit dem Gemälde von einem langgestreckten niedrigen Haus und der Lärche davor. Vor allem aber hatte sie mit der Frau zu tun, die hier wohnte.
    Zofia war Polin. Ihr Englisch hatte einen weichen Akzent, den sie nie verlor. Sie nannte mich »Phiilip«, und der Klang ihrer Sprache war so honigsanft, daß ich beim Zuhören manchmal vergaß, was sie sagte, und einfach nur dasaß und ihr zusah und die Worte wie Balsam auf mich niederregnen ließ. Ich liebte ihre Geschichten, ihren entrückten Gesichtsausdruck und ihre durchscheinenden blassen Augen. Ich liebte die Aura, die sie umgab. Ich liebte ihre Traurigkeit.
    In meinem Geburtsjahr war Zofia vierzig geworden. Ihrem Mann gehörten die beiden Hotels am Hafen unterhalb des Hauses. Seine Kellner holte er sich aus Süditalien, sie fingen Schlägereien an und schwängerten die Dorfmädchen. Als ich fünf war, beugte Zofia sich zu mir herunter und flüsterte: »Phiilip, willst du mein Freund sein, mein ganz guter Freund?«
    »O ja, bitte!«
    »Ich habe schon vier Freunde«, gestand sie. »Meinen Mann, meinen Sohn und meine beiden Hunde. Aber du mußt auch einer sein, Phiilip. Wärst du das gern?«
    Danach verging kein Weihnachten, ohne daß ein Überraschungsgeschenk mit der Post kam   –
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