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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
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mochte – nun wusste sie es, sah es, und sie wusste auch um den Weg, den er seither zurückgelegt hatte. Mit einem Mal verstand sie ihn, war dieser lang gehegte Wunsch, diese Sehnsucht erfüllt. Sie verstand, woher er kam, was er gesehen, was er erlebt hatte, wer er war. Es entschuldigte nichts – aber es erklärte alles.
    Chrysó, Goldkind, tauchten plötzlich Worte in ihr auf – Worte, die sie vergessen zu haben geglaubt hatte, Worte, die sie als kleines Mädchen gehört hatte, unter der Sonne Griechenlands, und sie meinte für einen Moment, den Staub in den Straßen zu riechen, den Duft von Trauben, den Geruch der alten Frau nach getrockneten Kräutern. Das Schicksal wird dich in die Fremde führen. Zwei Männer – Feinde – werden um dich werben, und du wirst das Geheimnis lüften, das sie aneinander bindet … Helena wollte beinahe laut herauslachen, doch die erschreckende Wahrheit würgte sie im Hals, ließ sie heftig schlucken, einen ekelhaften Geschmack in ihrem Mund zurücklassend.
    Das dünne Silber wog so schwer in ihrer Hand, so schwer wie all das, was daran hing, so viel Leid, so viele Erinnerungen – so schwer wie das Bewusstsein, dass sie in diesem Moment, mit diesem Medaillon, Ians Schicksal in den Händen hielt und das Richards. Wüsste Ian, dass Richard der Mann war, den er seit Jahren jagte, der Letzte, der für den Tod seines Vaters büßen sollte, so würde er nicht zögern, ihn zu vernichten, und der Gedanke daran, dass sie auf jenem Ball einander in die Augen geblickt hatten, Ian nur die Hand nach Richard hätte ausstrecken müssen, ließ ihr übel werden. Wüsste Richard, dass Ian der Sohn des Mannes war, den er unter dem Namen KalaNandi kannte, dass dieser es war, der seine Kameraden auf dem Gewissen hatte, würde dieser ebenfalls nicht zögern, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Wüsste irgendjemand, dass Ian Eurasier war, würde er Shikhara verlieren – seinen Lebenstraum. Widerstrebend musste sie im Nachhinein Shushila Recht geben: Es gab Geheimnisse, die zu gefährlich waren, um sie jemandem anzuvertrauen, und obwohl Ian versucht hatte, sie davor zu bewahren, kannte sie jetzt dieses Geheimnis – beide Seiten davon.
    Was sollte sie tun, mit ihrem Wissen, den Geheimnissen, ihrem Leben? Dieses Medaillon trug alles in sich; in ihm liefen alle Fäden zusammen, und mit wehem Herzen dachte Helena daran, was es Ian bedeuten würde, könnte sie es ihm bringen. Doch es würde sie beide zerstören, Ian und Richard,  beide Jäger und Gejagte zugleich, und sie ahnte, dass sie dieses Geheimnis wahren musste. Die Bürde, die ihr damit aufgelastet worden war, schien ihr unerträglich . Lass dich nicht vom ersten Augenschein täuschen – die Dinge sind oftmals nicht so, wie sie zunächst scheinen oder wie du sie sehen willst … Nein, die Dinge waren nicht so, wie sie zunächst schienen, aber sie hatten ihre eigene unumstößliche Wahrheit, mochte sie auch noch so bitter und schmerzhaft sein.
    Helena fühlte sich elend, und mit einem Mal überfiel sie eine bleierne Müdigkeit. Sie war es müde, Geschichten einer blutigen Vergangenheit zu hören, Geschichten, die älter waren als sie selbst und die sie doch in ihren Strudel hinabzuzerren schienen. Sie war dieses Landes müde, das so voller Grausamkeit und Hass war. Wie war sie nur hierher geraten? Mit schweren Gliedern stand sie auf und trat an das Fenster, blickte lange in den vom Wind über die Straße peitschenden Regen hinaus.
    Sie fühlte sich betrogen – betrogen um das Bild, das sie sich von Richard gemacht hatte, als einen Menschen, an dessen Händen kein Blut klebte, einen, der nicht von den Dämonen der Vergangenheit heimgesucht wurde, betrogen um die Illusion, bei ihm Ian vergessen zu können. Nie wieder würde sie von nun an Richard gegenüberstehen können, ohne daran zu denken, dass ein feiner Schicksalsfaden die beiden miteinander verband, und eine Laune des Schicksals hatte sie, Helena, um die halbe Welt geführt, gegen ihren Willen, um diesen Faden zu erkennen. Wohin sie an Richards Seite auch gehen würde – Ian würde immer mit ihnen reisen.
    Sie lehnte das Gesicht gegen die Fensterscheibe, die ihr Stirn und Wangen angenehm kühlte. Die Wolken hingen tief über der Stadt, verbargen die Berge hinter ihren Massen, und Sehnsucht flackerte in Helena auf, Sehnsucht nach dem Gipfel des Kanchenjunga unter dem weiten klaren Himmel, den sie nun nie wieder sehen würde, seine Farben im Laufe des Tages, kühl und silbern, flammend
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