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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
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rotgold, mattgrau. Ich werde nie wissen, wie er im Herbst aussieht – und wie im Winter … Sie dachte an das Haus, die wogenden grünen Felder des Tees kurz vor der Ernte, an ihren Garten, der nach dem Monsun wohl in allen Farben des Regenbogens blühen würde, an die Menschen, die mithalfen, Shikhara das sein zu lassen, was es war.
    Ich bin doch erst so kurz hier – ich kann doch noch nicht gehen … ich will noch nicht gehen … Die Sehnsucht nach Shikhara schien sie zu zerreißen, und sie begriff, dass ihr Herz in der kurzen Zeit dort Wurzeln zu schlagen begonnen hatte, neue Triebe aus den Wurzelstümpfen, die ihr nach der abrupten Abreise aus Griechenland verblieben, seither tot gewesen waren. Sie dachte an Surya Mahal, seine atemberaubende Pracht, an die Schönheit der kargen Landschaft Rajputanas, an die Menschen, denen sie begegnet war. »Du trägst Indien bereits in deinem Herzen«, hatte Djanahara zu ihr gesagt, und erst jetzt wusste Helena, dass es die Wahrheit war. Liebe mich, wie du dieses Land liebst, hatte sie einmal gedacht, als sie in Ians Armen lag. Lieben Sie ihn? – Lieben Sie ihn, bétii – das ist das Einzige, was ihn retten kann, und das Einzige, was er fürchtet …
    Ihr war, als stünde Mohan Tajid plötzlich neben ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Karma – dein Schicksal, deine Bestimmung.« – »Ich wünschte, ich wüsste, welches mein Karma ist«, entgegnete Helena ihm in Gedanken, und sie spürte, wie Mohan lächelte. »Kämpf nicht länger dagegen an – lass es geschehen … Dagegen anzukämpfen bedeutet nur zu leiden …«
    Ich will nicht mehr kämpfen, dachte Helena und schloss müde die Augen. »Ich will Frieden«, murmelte sie gegen das kalte Glas der Scheibe. »Was soll ich nur tun?«Verzweiflung überrollte sie, und ihre Finger krallten sich um das Metall in ihrer Hand.
    Zwei Männer – Feinde – einer von ihnen wird dein Glück sein … Ian, Rajiv, Bastard, Chamäleon, Sohn eines Engländers, Sohn einer Rajputenprinzessin, weiß und schwarz … Liebe mich, wie du dieses Land liebst … Lieben Sie ihn, bétii … Lieben Sie ihn? Sie haben ein Kämpferherz …Die Dinge sind nicht so, wie du sie sehen willst … Ich will Frieden … Ich will nach Hause … nach Hause …
    Wie seltsam es war, dass sie Sehnsucht nach einem Ort hatte, an den sie gegen ihren Willen gebracht worden war, die gleiche Sehnsucht, die sie ihr Leben lang nach der sonnenwarmen Erde Griechenlands gehabt hatte. Das Schicksal hatte sie hierher geführt, ihr all die losen Fäden in die Hand gedrückt – aber jetzt, in diesem Moment, hatte sie die Macht, sich zu entscheiden.
    Ich will nach Hause … nach Shikhara … Ian … der Jäger … der Löwe …
    Ruckartig öffnete Helena die Augen, und eine wunderbare Leichtigkeit breitete sich wie ein befreites Aufatmen in ihr aus.
    In der Schublade des Sekretärs kramte sie nach Tinte, Papier und Federhalter und schrieb eine kurze Notiz an Richard. »Ich kann nicht. Verzeih mir. Helena.« Sie betrachtete noch einmal das Medaillon, ein zärtliches, wehmütiges Lächeln auf den Lippen, ehe sie es sanft wieder verschloss und auf den Papierbogen legte.
    Sie schlüpfte in die Stiefel, die ein Hausdiener zwischenzeitlich blank gewienert hatte, stopfte den Revolver zurück in den Hosenbund und ließ ihren Blick durch den verlassenen Raum schweifen.
    »Danke, Richard«, flüsterte sie und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.

5
      S ie wartete unter den Arkaden, bis einer der Stallburschen Shakti geholt hatte. Der Hoteldiener, der sie heute Morgen – eine Ewigkeit schien es her, und doch kaum länger als einen Wimpernschlag – so unfreundlich empfangen hatte, trat zu ihr, seine Uniform inzwischen tadellos.
    »Sind Sie sicher, dass Sie da hinauswollen?« Mit dem Kinn wies er auf den strömenden Regen, der von den Windböen eilig über das Pflaster der Straße getrieben wurde. Gurgelnd schossen kleine Sturzbäche den Straßenrand hinab.
    Helena zögerte einen Augenblick. Der Ritt durch Regen und Sturm schreckte sie nicht – was sie fürchtete, war das, was sie auf Shikhara erwartete. Würde Ian noch dort sein, oder war er geflohen, wie so oft in seinem Leben? Oder schlimmer noch, würde er sie seinen Zorn spüren lassen und sie zum Teufel jagen? Doch sie hatte keine Wahl, sie musste es riskieren, alles auf diese eine Karte setzen.
    Helena holte tief Luft und nickte.
    »Ja, ganz sicher.«
    Sie hatte die Spitze ihres Stiefels schon im Steigbügel, als ihr der
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