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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
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zweiwöchigen Hölle, forderten viele Opfer, wie die unerträgliche Hitze, und in der Nacht des 15. Juli ließ der Nana Sahib alle Gefangenen von einer Gruppe ortsansässiger Fleischer niedermetzeln. Niemand überlebte.
    »Einen Tag später erreichten wir unter General Havelock Kanpur. Der Nana Sahib muss gewusst haben, dass wir im Anmarsch waren und alles tun würden, um die Gefangenen des Bibighar zu befreien.« Er wandte sich um und sah Helena mit einem wilden Ausdruck in den Augen an. »Ich war dort, Helena. Ich habe es gesehen. All die – «, er machte eine ausholende, hilflos wirkende Geste, »Leichen. Das, was von ihnen übrig geblieben war, die geschändeten Frauen und Kinder. Die Toten auf den Ghats. So etwas vergisst man nicht.« Er stellte sein leeres Glas auf den Sims und starrte wieder in die Flammen.
    » Ich habe es nicht vergessen, und das werde ich auch nie.« Er machte eine kleine Pause und schluckte mehrmals hart. »Wir waren so voller Zorn, voller Hass, und wenn einer von uns schwach zu werden drohte, riefen wir: »Denk an Kanpur, denk an den 15. Juli«, und machten weiter, verhafteten, hängten, erschossen, plünderten. Keiner sollte ungeschoren bleiben, der daran beteiligt worden war.« Er nahm sein Glas und ging durch den Raum, goss sich erneut ein. »Ein Name tauchte immer wieder auf, ein indischer Name, doch alle, die wir befragten, schworen, es sei einer von uns. Wir glaubten zuerst an eine Lüge, eine listige Finte, einen Irrtum. Doch die Beschuldigungen blieben hartnäckig, und als sich die Lage im Land weitestgehend beruhigt hatte, wurde ein Trupp meines Regimentes ausgeschickt, diesen Mann aufzuspüren. Acht Mann waren wir, und der Oberst. Fast ein Jahr waren wir unterwegs, kreuz und quer durch Indien. Ein paarmal entwischte er uns um Haaresbreite, und letztendlich ging er uns im Westen in die Falle, in der Wüste, in einem menschenleeren Teil Rajputanas. Gott weiß, was er ausgerechnet dort verloren hatte!« Richard lachte auf, doch es klang bitter, und er nahm einen tiefen Zug, als müsste er einen ekelhaften Geschmack hinunterspülen. »Er war abgemagert und verwildert, am Ende seiner körperlichen Kräfte. Aber sein Geist und sein Wille waren ungebrochen. Mit allen Mitteln versuchten wir, seinen wahren Namen, seine Herkunft, sein Regiment aus ihm herauszuquetschen. Wie wir das genau versuchten – das will ich dir ersparen. Schön war es nicht. Aber wir hassten ihn so sehr – von allen Seiten war uns bestätigt worden, dass er wohl die militärische rechte Hand des Nana Sahib war, mehr als nur beteiligt an den Morden am Ghat und im Bibighar – und das gab er auch unumwunden zu! Ich war der Letzte, der noch einmal versuchte, seine wahre Identität zu lüften.« Richard leerte das Glas in einem Zug. »Vielleicht war es, weil er keine Kraft mehr hatte, so wie wir ihn zugerichtet hatten, oder weil er ohnehin wusste, dass seine letzte Stunde bevorstand, aber er erzählte mir von seiner toten Frau, einer Inderin. Er behauptete, sie sei eine Prinzessin gewesen – ich weiß nicht, ob das die Wahrheit war. Er zeigte mir sogar ein Bild von ihr und von ihren Kindern. Sie war sehr schön. Tot, in Delhi umgekommen, und alles, was er getan hatte, hatte er getan, um sie zu rächen. Es mag seltsam klingen, aber auf eine Art verstand ich ihn. Denn was taten wir anderes, als unsere Frauen und Kinder zu rächen? Ich mochte ihn sogar, auf eine bizarre Weise. Wir standen auf verschiedenen Seiten, aber zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätten wir vielleicht Freunde sein können.«
    Richard starrte geraume Zeit auf einen unbestimmten Punkt des Raumes, dann lockerte er seine Krawatte und öffnete die obersten Knöpfe seines Hemdes.
    »Wir hängten ihn an Ort und Stelle und begruben ihn dort.« Er schnitt eine Grimasse. »Ich bekam für die erfolgreiche Ausführung des Befehls sogar eine Verdienstmedaille. Ich habe sie weggeworfen, als ich wenig später meinen Dienst in der Armee quittierte. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Ich wollte nur weg, so weit weg wie nur irgend möglich, und wanderte in die Staaten aus, fing dort noch einmal von vorne an. Doch welche Ironie: Wenig später stand dieses Land, in dem ich mir Frieden erhoffte, ebenfalls am Rand eines blutigen Krieges. Ich floh von der Ostküste, gerade noch rechtzeitig, ließ mich in Kalifornien nieder, und auf illegale Weise nahm ich den Namen eines Toten an, der wie in einem Wink des Schicksals ebenfalls Richard mit Vornamen
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