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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
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tröstlich, rollte der Donner von den Bergen heran. Sie brauchte ein paar Herzschläge, um sich zu erinnern, wo sie war. Ihre Muskeln schmerzten, doch mehr noch litt sie unter dem Gefühl tauber Leere in ihrem Innern. Was hinter ihr lag, erschien ihr wie ein Albtraum, der nicht wirklich geschehen war, ihr aber ein flaues Gefühl in der Magengrube hinterlassen hatte. Blick nicht zurück – nie …
    Seufzend schwang sie die Beine aus dem Bett, trat an den Waschtisch und stöhnte leise auf, als sie in den Spiegel sah. Ihr Haar war verknotet und wirr; ihr Gesicht schmutzverschmiert und gerötet, die Augen angeschwollen und von tiefen Schatten umgeben, und auf Schläfe und Wangen prangten blutverkrustete Striemen, die sie vorsichtig betastete. Waren das wirklich nur die Zweige gewesen, die sie auf dem Ritt hierher ins Gesicht bekommen hatte, oder war es doch Ian gewesen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern … Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Herausfordernd, fast trotzig, blickte sie ihr Spiegelbild an und tauchte ihr Gesicht in die Schüssel mit kaltem Wasser, wusch sich die Spuren der letzten Nacht, so gut es ging, fort, ordnete halbwegs mit Kamm und Bürste ihre Haare, ehe sie tief Luft holte und die Tür zum Salon öffnete.
    Lampen waren entzündet und verbreiteten einen warmen Schein, und im Kamin verströmte ein knisterndes Feuer heimelige Wärme. Richard hob den Kopf von seiner aufgeschlagenen Zeitung und lächelte sie an. »Gut geschlafen?«
    Helena nickte verlegen. »Wie – wie lange habe ich denn …«
    Richard zog eine Uhr aus der Westentasche seines braunen Anzugs.
    »Fast zwölf Stunden, es ist später Nachmittag. Eure merkwürdige teatime .« Er wies auf den kleinen Tisch vor sich. »Du hast sicher Hunger.«
    Sie nickte wieder und ließ sich in dem Sessel ihm gegenüber nieder. Er sah ihr ein paar Minuten lang zufrieden zu, wie sie sich auf die Sandwiches und den Früchtekuchen stürzte, Tasse um Tasse leerte, schenkte ihr aufmerksam nach, ehe er sich wieder in der Zeitung vertiefte. Verstohlen beobachtete Helena ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg. Wie vertraut sie hier beieinander saßen … Richard sah gut aus, auf eine zurückhaltende, bodenständige Weise, in seinem perfekt geschnittenen teuren Anzug und der passenden Krawatte. Wie es wohl sein würde, ihm so jeden Morgen beim Frühstück gegenüberzusitzen? Angenehm, beruhigend – so, wie es mit Ian niemals gewesen war, und es erschreckte sie, dass sie bei dieser Vorstellung nichts empfand, nur eine eigenartig bedrückende Leere. Rasch senkte sie den Blick wieder, verwirrt über ihre seltsamen Gedanken und Gefühle.
    Als sie die letzten Krümel von ihrem Teller aufpickte, ließ das Rascheln seiner Zeitung sie aufsehen. Er faltete sie umständlich zusammen und legte sie beiseite.
    »Ich habe mir erlaubt, dir das da – «, er wies auf den Kaminsims, auf dem sie den silbernen Lauf des Revolvers erkennen konnte, »abzunehmen, als du eingeschlafen bist.« Er sah sie prüfend an. »Ich mag mir kaum vorstellen, wie es dir ergangen sein muss, wenn du dir so ein Ding besorgt hast.«
    Helena hob abwehrend eine Hand, wollte einwerfen: »Nein, es ist nicht so, wie du denkst«, doch eine innere Stimme flüsterte ihr zu, Ian ist ein Mörder, Helena – ein Mörder … , und sie ließ stumm die Hand wieder sinken.
    »Ich kenne deinen – ich kenne Mr. Neville nicht. Aber nach dem, was ich gehört habe, scheint er ein sehr – hm – schwieriger Mensch zu sein.«
    Helena schob nachdenklich mit der Fingerspitze einen verloren gegangenen Krümel auf der Tischplatte hin und her.
    »Bis gestern wusste ich selbst nicht, wie sehr«, murmelte sie vor sich hin.
    Richard sah sie an, ernst und eindringlich.
    »Niemand kann dich zwingen, mit ihm verheiratet zu bleiben. Wir leben zum Glück nicht mehr im vergangenen Jahrhundert – du kannst dich scheiden lassen, wenn du willst. Es ist nicht leicht, und wenn man nicht klug dabei vorgeht, kann es den gesellschaftlichen Tod bedeuten. Aber es ist möglich.« Er machte eine kleine Pause, und Helena sah ihm an, wie es in ihm arbeitete, als versuchte er, seine Worte gut abzuwägen. »Ich würde dir gern dabei helfen, wenn du es willst. Ich kenne gute Anwälte, und bei dem, was er dir angetan hat, bestehen sicher gute Chancen, eine Scheidung durchzubekommen. Aber ich will ehrlich sein: Ich bin dabei nicht ganz frei von der Hoffnung«, er geriet ins Stocken, strich sich mit einer fahrigen Geste durch das Haar, »von
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