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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
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hieß. Zuerst mit gefälschten, später dann mit erneuerten echten Papieren. Gewissensbisse habe ich deshalb nie gehabt – Richard Deacon starb tatsächlich auf eine Art im Krieg auf indischem Boden. Und als Richard Carter habe ich es geschafft, mir ein neues Leben aufzubauen – mit Erfolg, wie du ja weißt.« Er bemühte sich um ein Lächeln, das ihm misslang. »Vergessen«, er senkte den Blick, nestelte unbeholfen unter seinem Kragen, »vergessen kann ich dennoch nicht.«
    Er fischte etwas an einer Kette hervor, das metallisch aufblitzte, zog es über seinen Kopf und drückte es Helena in die Hand und hielt diese fest, als er leise hinzufügte: »Ich kann nur hoffen, dass du nun nicht allzu schlecht über mich denkst. Was geschehen ist, bedaure ich zutiefst, aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen.« Er ließ ihre Hand los, die sie fest um den Anhänger geschlossen hielt, als fürchtete sie, er könnte ihr entgleiten.
    »In einer Laune des Schicksals begegnete mir in meinem Hotel in Kalkutta vor ein paar Monaten einer meiner früheren Kameraden aus jenen Tagen und erzählte mir eine wirre Geschichte von einem Fluch, der seit der Hinrichtung jenes Verräters auf uns lastete. Es stimmt – er verfluchte uns lauthals, bevor er starb, aber ich glaube nicht an Flüche. Ich habe es jedoch nachgeprüft, und tatsächlich ereilte alle ein unglückseliges Schicksal. Alle – bis auf mich. Scheint so, als übte jemand späte Rache für einen Verräter. Ich denke, das solltest du auch wissen.«
    Er zögerte kurz, dann wies er auf den Anhänger, den sie noch immer umklammert hielt. »Das hat mir Kala Nandi vor seiner Hinrichtung geschenkt, und ich trage es seither. Vielleicht war es das, was mich bislang beschützt hat.« Er holte tief Luft und nickte ihr kurz zu. »Ich bin unten in der Bar, wenn du mich suchst.« Im Vorübergehen berührte er leicht ihre Schulter, dann klappte die Tür, und sie war alleine.

4
      W ie unter Schock starrte Helena stumm und bewegungslos auf ihre geballte Faust, musste sie sich zwingen, ihre Finger zu öffnen. Wie von selbst sprang das Medaillon auf, und Tränen schossen ihr in die Augen.
    Auf der linken Seite blickte ihr das Gesicht einer schönen jungen Frau entgegen, mit fast weißer Haut und großen dunklen Augen, und sie erkannte darin das gleiche Gesicht, das sie damals im verbotenen Turm von Surya Mahal gesehen hatte. Voller Liebe schien diese junge Frau gleichzeitig den Betrachter anzublicken als auch die beiden Kinder in der rechten Hälfte des Medaillons, ein kleines Mädchen, das seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur mit noch hellerer Haut, braunem Haar und braunen Augen, und ein etwas älterer Junge. Es war Ian, seine Gesichtszüge, seine Augen, die gleichen Augen wie die seiner Mutter, wie die Mohan Tajids – Rajiv, ehe er zum Chamäleon wurde, ehe man ihn als Bastard gebrandmarkt hatte.
    Sie drehte das Medaillon um, und zärtlich fuhr sie mit dem Finger über die drei ineinander verschlungenen lateinischen Großbuchstaben, die in den Deckel eingraviert waren: RAS – Rajiv, Ameera, Sitara. Und ras oder rasa konnte im Hindustani je nach Mundart und Zusammenhang Mark bedeuten, das Beste von etwas, Schönheit, Liebe, aber auch Gift, und aus dieser Wurzel leitete sich rasendra ab, der sagenumwobene Stein der Weisen, von dem die Alchemisten glaubten, er könne einfaches Metall in Gold verwandeln.
    »Als enthielte es sein Herz, das zu zerbrechen drohte«, hatte Mohan Tajid über Winston gesagt, und Helena verstand, wie in jenem Augenblick, an einem Maitag vor zwanzig Jahren, Winston zu Kala Nandi wurde. Es gab keine Entschuldigung für all jene Grausamkeiten, die er begangen hatte, deren er sich schuldig bekannte und für die er schließlich starb – aber Helena begriff, dass dieses Medaillon tatsächlich Winstons Herz enthielt, das Beste von allem, was sein Leben ausmachte und zum tödlichen Gift wurde, als sein Herz in jenem Moment, in der Druckwelle der Explosion, brach.
    Ob er gewusst hatte, dass Ian überlebt hatte? Ob er ihn tatsächlich finden wollte oder nur verzweifelt Schutz auf Surya Mahal gesucht hatte, weil es ihm trotz allem, was geschehen war, der sicherste Ort auf seiner Flucht schien, ehe ihn die Soldaten ergriffen? Mohans Erzählung war in diesem Punkt ungenau gewesen, und Helena wusste, dass sie es nie herausfinden würde. Die Antwort darauf hatte Winston mit ins Grab genommen.
    Sie hatte sich manchmal gefragt, wie Ian als Kind gewesen sein
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