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Neues Glück für Gisela

Neues Glück für Gisela

Titel: Neues Glück für Gisela
Autoren: Berte Bratt
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Flucht vor der Vergangenheit
     
     
    Gisela saß zusammengekauert in einer Ecke des Abteils, den Kopf gegen das Rückenpolster gestützt. Sie hatte versucht zu lesen, es aber aufgegeben. Bücher und Zeitschriften lagen vor ihr auf dem Klapptischchen, zusammen mit einer Obsttüte, die sie kaum angerührt hatte, und einer Pralinenschachtel, die noch ungeöffnet war.
    Kleine Häuser glitten vorüber – zwischen niedrigen Hügeln begannen feine Nebel zu brauen. Eine weiße Möwe zog einsam am blaugrauen Himmel dem Meer zu. Gisela schloß die Augen.
    Die Räder des Zuges sangen im Takt gegen die Schienen. Der Rhythmus fraß sich in ihr Bewußtsein ein, es war derselbe Rhythmus wie in dem Schlager von „Wenn ich will, stiehlt der Bill für mich Pferde…“
    Andreas hatte ihr zugelächelt und die Melodie mitgesummt, und als sie heimwärts gingen – Gisela wollte absolut zu Fuß gehen und kein Taxi nehmen – , hatte er ihren Arm eng an sich gedrückt und erneut den Schlager gesummt: „Wenn ich will, stiehlt der Bill…“
    Ach, daß sie diesen albernen Song nicht loswerden konnte. Sie versuchte diese Gedanken abzuschütteln und in eine andere Spur zu zwingen, aber sie kamen wieder, der Rhythmus der Räder brachte sie zurück.
    „Wenn ich will, stiehlt der Bill…“
    Und alles zusammen stand wieder vor ihr und rollte ab wie ein Film, die Bilder zwangen sich ihrem müden Gehirn auf. Der wunderbare Abend, damals mit Andreas. Und Andreas’ Abschiedsworte: „In sechs Wochen, Gisela! Nur noch sechs kurze Wochen!“
    Ja. In sechs Wochen sollte ihre Eigentumswohnung bezugsfertig sein. Daheim lag die Aussteuer bereit, alles war in Ordnung und sowohl Giselas als auch Andreas’ Familie waren glücklich darüber.
    So lange Gisela sich zurückerinnern konnte, gab es immer nur sie und Andreas. Als sie ganz klein waren, hatten sie zusammen im Sandhaufen gespielt. Dann hatten sie einander auf Kindereinladungen besucht. Und als sie ihre Schulzeit in der alten, traditionsreichen Mädchenschule beendet hatte und er die seine in der alten traditionsreichen Knabenschule, waren sie zusammen in derselben Gymnasialklasse gewesen.
    Ihre Eltern verkehrten miteinander, ebenso wie Großvater Ryssel und Großvater Sund miteinander verkehrt hatten. Ja, die Freundschaft ihrer beiden Familien reichte ein paar Generationen zurück.
    Alles schien so selbstverständlich, und nie bestand der leiseste Zweifel darüber, daß Gisela Ryssel und Andreas Sund zusammengehörten. An dem Tag, an dem die Verlobungsanzeige in der Ravensunder Zeitung stand, war kein Mensch in der Stadt überrascht.
    Das einzige, worüber man sich wunderte, war, daß Gisela nach dem Abitur angefangen hatte, in Oslo Philologie zu studieren.
    „Ja, was will denn die Gisela mit einem Examen in Philologie?“ fragten sich die Leute. „Sie wird doch sicher Andreas Sund heiraten.“
    Gisela machte auch kein Examen, dieses Mal nicht. Denn als Andreas von seinem Auslandsaufenthalt heimkam und in die Firma seines Vaters als Juniorchef eintrat, da fand er, gleich seinen und Giselas Eltern, daß nunmehr kein Grund vorlag, mit der Heirat länger zu warten.
    So hatte Gisela ihre Studien aufgegeben. Sie hatte sie eigentlich bloß angefangen, weil sie sich für Sprachen interessierte und sie besser lernen wollte, als es in der Schule und auf ihren Reisen möglich war. Sie war nach Hause zurückgekehrt und nähte an ihrer Aussteuer und war eine glückliche Braut.
    Andreas galt als gute Partie. Er war der einzige Erbe der bekannten Firma Reeders Sund. „Sehr unpraktisch von meinen Eltern“, sagte Andreas. „Wenn mir nun ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen wäre, wer hätte dann die Firma übernommen? Gisela und ich werden uns viel praktischer einrichten, wir werden mindestens sechs Söhne haben.“
    Gisela hatte gewiß nichts gegen sechs Söhne, sie war eher geneigt, diese Sammlung noch durch sechs Töchter zu ergänzen. Auch dieser Punkt gehörte zu den Dingen, über die sie und Andreas ganz einer Meinung waren: beide liebten sie Kinder. Wenn Gisela von ihrer und Andreas’ Zukunft träumte, sah sie sich und ihn immer inmitten einer glücklichen Kinderschar. Gesunde, rotbackige, muntere Kinder, denen das Sundsche Familienvermögen und ihr eigenes großes Vermögen die Zukunft sichern sollten. Enkelkinder des Reeders Sund und des Großkaufmanns Ryssel.
    Gisela machte die Augen auf. Der Zug hielt mit einem Ruck vor einem kleinen gelben Bahnhofsgebäude. Das war die letzte
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