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Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien
Autoren: AMANDA MCCABE
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PROLOG

    Keine Nacht war je dunkler gewesen.
    Immer wieder verschleierten dahinjagende Wolken die schmale Mondsichel, die hoch über den schiefen Dächern Londons stand. Sterne waren nicht zu sehen, nicht einmal als vereinzeltes, kraftloses Funkeln, und der berüchtigte Londoner Nebel kroch schwer, geradezu ölig, die träge Themse herauf. Bald würde er die Stadt einhüllen und das magere Licht des Mondes vollends auslöschen.
    Aber die Gäste der Marchioness of Tenbray – also so ziemlich die gesamte bessere Gesellschaft der Stadt – scherten sich nicht um die Düsternis außerhalb des hell erleuchteten Stadthauses. Sie waren vollauf damit beschäftigt, sich im Gewimmel des marmor- und goldverzierten Ballsaals zu ergehen, zu lachen, zu tanzen, hinter Seidenfächern die neusten Gerüchte auszutauschen, Champagner zu trinken oder im Schutz der Topfpalmen auf der Terrasse zu turteln. Die Musik vermischte sich mit dem Geplauder und dem Klirren der Kristallgläser zu einem berauschenden Strudel, der die kühle Finsternis vergessen ließ.
    Nicht nur die heimlichen Verliebten auf der Terrasse machten sich die Dunkelheit zunutze. Hier hatte jemand etwas erheblich Wichtigeres und Unziemlicheres im Sinn.
    Die hochgewachsene, ganz in Schwarz gehüllte und maskierte Gestalt wand sich durch die Fensteröffnung und landete lautlos wie eine Katze auf dem seidenen Aubusson-Teppich, der das glänzende Parkett in der Bibliothek bedeckte. Mit angehaltenem Atem ging sie in die Hocke; die hellen Augen, die durch die Schlitze der Satinmaske schimmerten, musterten den Raum systematisch. Wie erwartet war die Bibliothek menschenleer; nur ein süß duftendes Rapsöllämpchen auf dem polierten Tisch warf flackernd einen schwachen goldenen Lichtkreis; die Ecken des großen Raums lagen im Dunkeln. Die Lederbände in den deckenhohen Buchregalen wirkten, als wären sie kaum je berührt, geschweige denn gelesen und geschätzt worden. Lady Tenbray war nicht gerade für ihren Intellekt bekannt.
    Ihr verstorbener Gemahl war ein leidenschaftlicher Sammler italienischer Antiquitäten gewesen, und aus diesem Grund war die schwarze Gestalt hier. Sobald sie sich sicher war, allein zu sein, richtete sie sich auf und durchmaß leise und zielstrebig den Raum – denn sie hatte sich den Standort jedes Stuhls und Tisches genauestens eingeprägt.
    An der Rückwand flankierten Glasvitrinen zu beiden Seiten den verzierten Kamin, randvoll mit den Schätzen, die der Marquis auf zweifelhaften Wegen zusammengerafft hatte. Als er einst britischer Botschafter im Königreich Neapel gewesen war, hatte er Statuen, Schmuck, Fresken und Vasen kistenweise nach Hause verschifft. Die Bibliothek barg nur die besten Stücke seiner Sammlung.
    Der Eindringling zog eine dünnes Werkzeug aus seiner Gürteltasche und schob es vorsichtig in das Schloss einer der Vitrinen. Ein Ruck, eine Drehung, und das Schloss gab nach. Kopfschüttelnd öffnete er die Tür: Wer seine Besitztümer so schlecht schützte, verdiente sie nicht!
    Das Objekt seiner Begierde lag genau in der Mitte: ein etruskisches Diadem aus sehr dünn geschlagenem Gold, das zu zarten Blättern und Ranken geformt worden war. Einst hatte es das Haupt einer Königin geziert, jetzt befriedigte es die Eitelkeit einer alten Engländerin.
    Nicht mehr lange.
    Vorsichtig nahm die Gestalt das Diadem auf. Sogar in der Dunkelheit schimmerte es hell und vollkommen wie die italienische Sonne auf ihren schwarzen Handschuhen. Es wirkte so zerbrechlich, und doch hatte es Jahrtausende überdauert.
    „Bald bist du in Sicherheit!“ Schon verschwand das Diadem in der Tasche.
    Im selben Augenblick war vor der Bibliothekstür ein Poltern zu vernehmen. Mit pochendem Herzen wirbelte die Gestalt herum.
    „Nein, Agnes, wir können …“ Die trunkene Männerstimme drang dumpf, aber vernehmlich durch die Stille.
    „Oh doch, und ob!“, erwiderte eine Frau. „Aber schnell, bevor mein Mann vom Kartenspiel zurückkommt.“
    Wieder polterte es, und jemand drückte die Klinke herunter.
    Zeit zu gehen. Der Eindringling zog eine schneeweiße Lilie aus der Tasche und legte sie genau an die Stelle des Diadems. Dann eilte er zum Fenster. Als die Tür aufflog, war er bereits in der schwarzen Nacht verschwunden.
    Der Liliendieb hatte wieder zugeschlagen.

1. KAPITEL

    „Hiermit erkläre ich die Sitzung der Gesellschaft der kunstverständigen Damen für eröffnet.“ Calliope Chase klopfte mit ihrem Hämmerchen auf den Tisch. „Miss Clio Chase, unsere
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