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Hexenstein

Hexenstein

Titel: Hexenstein
Autoren: Jakob Maria Soedher
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die Arme fallen und es war, als flösse ihre Kraft mit dieser defensiven Bewegung dahin. »Was ist geschehen, was ist geschehen …«, wiederholte sie leise, »ja, was ist geschehen. Viel ist geschehen, viel … viel …«
    Lydia Naber machte ein vorsichtiges Angebot. »Wie hat sich Gundolf Kohn Ihnen gegenüber denn so benommen?«
    Sie presste die Lippen aufeinander, ihre Augen wurden ganz eng. »Benommen!?« Sie schrie es fast heraus. Etwas Speichel war ihr im Mundwinkel hängen geblieben. »Sie gebrauchen tatsächlich das Wort benehmen im Zusammenhang mit Gundolf Kohn!?«
    Lydia Naber reagierte nicht, sah sie nur an. Nora Seipp holte tief Luft. Jetzt, mit der Wut, mit ihrer Empörung, war wieder Kraft in ihren Körper zurückgekehrt.
    Sie klang bestimmt, als sie verlangte: »Beenden wir das Ganze doch. Es hat ja keinen Sinn. Nehmen Sie mich fest … und dann sehen wir weiter.«
    Schielin hob den Kopf und lehnte sich zurück. »Ich denke, es macht schon Sinn für Sie mit uns zu reden.«
    »Was hätte ich davon?«, klang es wegwerfend.
    »Wir haben vielleicht etwas zu bieten«, stellte er nüchtern fest.
    Nora Seipp sah in die Runde. »Ich bezweifle, dass Sie etwas zu bieten haben.«
    »Seien Sie nicht zu schnell. Warten Sie ab. Was ist denn Ihre Wahrheit, oder meinen Sie Wirklichkeit?«, nahm Schielin sofort den Faden wieder auf.
    »Es gibt nur eine Wirklichkeit«, sagte sie.
    »So?«, blieb Schielin kurz angebunden, um sie weiterreden zu lassen.
    »Ja. Und darin findet jeder seine Wahrheit. Sie die Ihre – Sie haben Ihre Methoden eine Schuld aufzuspüren, fassen Sie in Worte, bedrucken weißes Papier mit schwarzen Zeichen, womit sie für immer festgehalten ist. Dann legen Sie Ihre Form der Wahrheit in Regale, wo sie verrottet.«
    »Und wie ist es in der einen Wirklichkeit?«
    »Sie können nicht die Wirklichkeit mit Ihren Methoden beschreiben, das würde Sie überfordern, nicht Sie persönlich, sondern Ihr System, für das Sie tätig sind. Die Wirklichkeit ist zu komplex, zu verwoben, es gibt zu viele Abhängigkeiten. Aus diesem Grund picken Sie sich auch einen Teil der Wirklichkeit heraus, machen Ihre Wahrheit … und schreiten fort zum nächsten.«
    »Beschreiben Sie doch einmal Ihre Wahrheit, Frau Nora Seipp, oder vollständig gesagt Frau Judith Nora Sander, geschiedene Seipp. Zu welcher Wahrheit gehören diese Namen? Ist Nora Seipp ein Stück Wahrheit aus einer für Sie zu komplexen Wirklichkeit? Beginnt die Wirklichkeit, von der Sie sprechen, mit der Geburt von Judith Nora Sander oder ist Nora Seipp eine Person in einer anderen Wirklichkeit?«
    Nora Seipp sah ihn lange an. Sie nahm den Plastikbecher und diesmal war ihre Erregung zu sehen. Sie beulte die dünnen Wände des Plastikbechers so stark ein, dass ein knackendes Geräusch entstand.
    »Wie ist es also?«, hakte Schielin nach.
    »Was ist es, das Sie zu bieten haben?«, fragte Nora Seipp und fuhr mit der Zunge über ihre Unterlippe. Soeben hatte sie sich auf eine Verhandlungsposition begeben. Nachdem er ihren Namen genannt hatte, war sie neugierig darauf, was er zu bieten hatte, der Polizist. Sie nahm einen letzten Schluck und ließ das Wasser langsam über den Gaumen gleiten und spürte dem Nass nach, bis in ihren Bauch hinein.
    »Wir werden Sie zu Ihrer Mutter bringen«, sagte der Polizist.
    Es war, als hielten alle im Raum den Atem an, warteten darauf, dass etwas Besonderes passieren würde. In Nora Seipp hallte der Satz mehrmals nach. Wir werden Sie zu Ihrer Mutter bringen.
    Das war es also, was er zu bieten hatte.
    Der Schwindel von vorhin kam stärker zurück. Für einen Augenblick war alles unscharf vor ihren Augen und im Bauch spürte sie ein heftiges Zucken und Ziehen.
    Alle sahen ihre verwunderte Starre und die stummen Bewegungen ihrer Lippen.
    Schielin wartete und hoffte, dass keiner von den anderen meinte, die quälende Stille durch eine Frage brechen zu müssen. Es dauerte lange. Kaum einer traute sich eine Bewegung zu vollführen.
    Nora Seipps Mund war verschlossen. Sie atmete laut durch die Nase.
    Nach langer Zeit fing sie zaghaft an einige Worte zu sagen. Nichts Zusammenhängendes, nichts, was mit der Situation zu tun gehabt hätte. Schielin unterbrach sie. »Frau Seipp. Sie sind die Tochter jener jungen Frau, die vor über dreißig Jahren angeblich bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Sie sind die geborene Judith Nora Sander. Erzählen Sie mir nicht, dass es Zufall ist, dass Sie ausgerechnet beim Mann der besten Freundin,
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