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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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Staunen heraus. Ich lief die schmale Straße entlang und an den Baracken vorbei und vergewisserte mich, dass alles, was ich zuvor entdeckt hatte, noch immer an Ort und Stelle stand. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und lachte. Wie konnte es sein, dass ein ganzes Dorf so dicht bei Hemmersmoor lag und doch völlig unbekannt schien? Ich fühlte mich wie ein Entdecker, der die letzten weißen Flecken auf der Landkarte getilgt hatte. Besser noch, es kam mir vor, als habe ich ein geheimes Reich entdeckt und betreten. Ich hatte eine magische Öffnung gefunden und war in eine Parallelwelt geraten. Ich fühlte mich in dieser Nacht sehr mächtig. Ich war der Herr einer Welt, die allein ich betreten konnte.
    *
    Ich hatte mich natürlich getäuscht. Das dämmerte mir, als ich einen Wimpel am Rad eines Schuljungen flattern sah. Der Wimpel war an einen Stock gebunden und ragte hinter dem Sattel des Fahrrades auf. Auf dieser kleinen Fahne konnte ich »enir« lesen, und ich wusste sofort, wo der Junge sie gefunden hatte. Am selben Nachmittag folgte ich den Bahngleisen von Brümmers Fabrik aus Richtung Norden, nach einer halben Stunde erreichte ich meine Geisterstadt. Offenbar hatten alle immer schon davon gewusst. Mein Gesicht glühte heiß, obwohl niemand sonst zu sehen war.
    Als Sylvia und ich uns wieder zu treffen begannen, ein paar kurze Sommerwochen lang, trieben wir es auf dem Friedhof und bemerkten erst danach, dass das Denkmal mit Blut beschmiert war. Eingeweide, Schweinepfoten und Schweineköpfe hingen von ihm herab. Sylvia konnte ihre Unterhosen nicht finden.
    Eingeschlagene Fenster, an die Wände geschmierte Parolen, umgestürzte Betten – in den nächsten zwei Jahren bemerkte ich, wie viele Menschen meine Geisterstadt anlockte. Niemals traf ich auf jemanden und doch war ich nie allein. Irgendwann wurde das Dorf in ein Lager für Flüchtlinge aus dem anderen Deutschland umgewandelt. Ich hatte Geschichten gehört und es auf Landkarten gesehen. Unser Deutschland war rosa gefärbt gewesen, das andere rot.
    Sie tauchten in kleinen Gruppen in Hemmersmoor auf und hingen vor Fricks Krug herum und gerieten in Schlägereien mit den Lehrlingen aus Brümmers Fabrik. Alex war nach drei Jahren Anstalt entlassen worden, und wenn er nicht gerade als Chauffeur der von Kamphoffs arbeitete, war er immer mitten im Geschehen. Niemand wollte die Fremden haben, nicht einmal Herrn Meier, den Bäcker, schien es zu freuen, dass er jeden Morgen Hunderte von Brötchen in das andere Dorf liefern konnte.
    Es war mein letztes Schuljahr, und mit einigem Glück würde ich den Abschluss schaffen. Was danach passieren würde, wusste ich nicht zu sagen. Martin hatte Pläne, in Hamburg zu studieren. Alex würde den Krug übernehmen. Es gingen Gerüchte über die Fricks um, hässliche Gerüchte, dass Hilde eine uneheliche Tochter habe und dass der alte Frick große Summen zahlte, es geheim zu halten. Doch die Fricks schien es nicht zu stören; ihre Gaststube war immer voll. Gerüchte waren gut fürs Geschäft.
    Ich stand eines Morgens auf unserem Dorfplatz, als Bäcker Meier von einer Liefertour ins Lager zurückkehrte und missmutig die leeren Kisten aus dem Wagen lud. Er winkte mich heran. Ich hatte keine Ahnung, ob er wusste, dass Sylvia mit mir geschlafen hatte, und näherte mich zögernd. Doch er fragte bloß, ob ich mir ein paar frische Brötchen verdienen möge, und ich half ihm, die Kisten in die Backstube zu tragen. »Grüß deine Mutter von mir«, sagte er, als wir fertig waren und in den Laden traten, wo Frau Meier sich mit einigen Kundinnen unterhielt. Er klopfte mir auf die Schulter und bat seine Frau, mir eine Tüte Brötchen zu geben.
    In diesem Moment, da die strahlende Bäckersfrau mir die Brötchen aushändigte und Herr Meier mir auf die Schulter klopfte, erinnerte ich mich an das Foto meines Vaters, und mit einem Mal wusste ich ganz genau, wo es aufgenommen worden war. Ich riss der Bäckersfrau die Tüte aus der Hand und rannte nach Hause.
    Es war früh, meine Schwester saß noch nicht auf ihrer Bank in der Küche. Kein Laut war von ihrem Sohn zu hören. Ich lief in die Stube und nahm das Foto, auf dem Bäcker Meier und mein Vater in die Kamera lachten. Nur einer der Männer im Hintergrund, die ich all die Jahre für Soldaten gehalten hatte, trug eine richtige Uniform und eine beschirmte Mütze und hatte ein Gewehr. Die anderen Männer trugen graue Klamotten, ihre Köpfe waren kahl geschoren. Und das Gebäude, vor dem die beiden
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