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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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Hintertür und setzte sich neben mich.
    »Wir werden noch zu spät kommen«, sagte ich.
    »Vielleicht«. Alex streckte die Hand aus und berührte meine Brust.
    »Heh«, sagte ich und zwang mich zu lachen. Das konnte doch nur ein dummer Witz sein.
    »Heh«, äffte er mich nach und legte mir die andere Hand auf die Hüfte. Seine Hände waren riesengroß, seine Finger dick; kleine schwarze Haare wuchsen auf ihnen.
    Ich rutschte etwas nach rechts, und er rutschte mir nach. Ich griff nach der Tür und entriegelte sie, aber Alex’ linke Hand legte sich um meinen Arm, und er schüttelte den Kopf. Dann legte sich seine Hand um meine andere Brust.
    Ich hätte schreien können, ich hätte versuchen können, die Tür aufzustoßen und fortzulaufen, aber ich wollte nicht, dass er mich schlug. »Rutger wird …«, sagte ich und konnte den Satz nicht beenden.
    Alex schien mich nicht zu hören. »Du siehst komisch aus«, sagte er.
    Das sanfte Nachmittagslicht schien in den Wagen, und als er mich auf den Rücksitz niederdrückte, konnte ich einen Moment lang die Sonne blass hinter einer dünnen Wolkenschicht ausmachen. Dann erschien Alex’ Gesicht über mir. All das geschah sehr langsam, er schien keine Eile zu haben. Er saß über mir, knöpfte die Jacke auf und warf sie auf den Beifahrersitz. Dann öffnete er die Krawatte und legte sie ab und zog das Hemd aus. Schließlich öffnete er seine Hose.
    »Weißt Du«, sagte er, »mein Bruder hatte all die komischen Zeichnungen auf seiner Haut.«
    Ich nickte. Ich selbst hatte sie nie gesehen, aber meine Freundinnen hatten mir von Olafs Tätowierungen erzählt.
    »In der Anstalt hatten ein paar Jungs die auch.« Er hielt einen Moment inne. »Ich glaube nicht, dass ich ein und dasselbe Symbol oder Bild ein Leben lang tragen könnte. Oder einen Namen.« Er schien gründlich darüber nachzudenken, so als ob er sicher gehen wollte, dass seine Worte auch stimmten. »›Anke‹, zum Beispiel. Ich meine, wenn du das Mädchen eines Tages nicht mehr magst, ist der Name noch immer da, und er erinnert dich ständig an sie.«
    Meine Stimme war leise und belegt. Es schien wichtig, dass ich ihm antwortete. »Vielleicht etwas Einfaches. Ein Kreis, ein Viereck, ein Dreieck.«
    Alex lachte, er schien sich wirklich zu amüsieren. »Ein Viereck. Einfach«, wiederholte er grinsend.
    »Ja, ein schwarzes Viereck. Muss gar nichts bedeuten. Einfach ein Viereck.«
    »Hah. ›Was bedeutet das?‹ – ›Warum? Ich liebe Vierecke einfach‹«, sagte er, und wir beide lachten. Meine eigene Stimme schrillte mir in den Ohren.
    »Ja, ein Viereck«, sagte ich.
    Alex schwieg für eine Weile. Er saß in seinen Unterhosen neben mir auf dem Rücksitz. »Ich würde es gern sehen, wie sich jemand seinen Körper auf den Leib tätowiert.«
    »Wie meinst du das?«, fragte ich. Seine Hände hatten mich vergessen. Rede, Anke, flüsterte ich mir zu, rede einfach weiter. Sag nur etwas, sprich, halt ihn auf. Halt ihn nur auf.
    »Nur der Umriss des Körpers, ein bisschen kleiner, sodass er passt«, erklärte Alex. »Die Finger sind auf die Finger tätowiert, die Arme auf die Arme. Na, das Gesicht wäre schwierig.«
    Ich versuchte zu lächeln. »Die Augen, ja. Die Nase – die könnte man machen.«
    »Und eine Sache müsste fehlen. Weißt du, der ganze Körper wäre auf der Haut, aber eine Hand würde fehlen oder eine Wade. Und jeder würde auf die eine Wade stieren, weil die einfach fehlt.«
    »Das wäre seltsam«, sagte ich. »Würdest du auch das Skelett auf die Haut zeichnen?«
    »Vielleicht«, entgegnete er abwesend, aber ich konnte hören, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte. »Es gäbe zwei Menschen, aber einer wäre unvollständig.« Mit diesen Worten rückte Alex etwas von mir ab, hob mein Kleid hoch und zog meine Unterhosen herunter. Das Radio spielte immer noch, die Sängerin hatte eine klare Stimme, und sie sang von Inseln im Meer und schweren Stürmen. Alex stieg aus dem Wagen und wandte sich ab. Er ließ die schwarzen Hosen zu Boden fallen. Auf dem Rücken hatte er zwei oder drei rote Flecken, ansonsten war er völlig weiß. Er konzentrierte sich so sehr darauf, die Knoten in seinen Schnürsenkeln zu lösen, dass er mich kurz zu vergessen schien. Ich lauschte der Musik und überlegte, wie ich aus dem Wagen springen und davonlaufen könnte. Ich wäre schnell genug, ich könnte es schaffen. Doch Alex’ bloße Gegenwart, sein massiger, weißer Rücken, machten meine Pläne zunichte, und als er endlich die Schuhe
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