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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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auch nicht. Es gab nichts, dem ich entrinnen konnte, nichts, wovor ich hätte flüchten können. Ich hörte noch immer die Musik, es klang jetzt leidenschaftlich, eine weibliche und eine männliche Stimme schlangen sich umeinander, und obwohl ich in dem Moment an nichts anderes als an diese Musik denken konnte, wusste ich genau, dass Alex sich nicht fürchtete, und dass ich Rutger nie etwas von dieser Fahrt oder der nächsten sagen würde. Sollte ich jemals den Mund aufmachen, würde Alex vom Gut gewiesen, vielleicht sogar verhaftet werden. Und Rutger? Was würde er tun, nachdem er mit seinem Chauffeur fertig wäre? Mit welchen Worten würde er mich abwimmeln?
    Mit meinem gestickten Taschentuch wischte ich die Rückbank ab, bevor ich wieder einstieg. Der Regen kühlte die Luft nicht ab, sie war noch immer sanft, und Alex schloss das Fenster nicht, als er sich hinter das Steuer setzte.
    Ich hätte ihn verraten können, doch ich gab ihn nicht preis, nicht an jenem Nachmittag und auch nicht später. Mein Ziel, an Rutgers Seite zu leben, machte es unabdingbar, dass ich den Mund hielt. Und wichtig war, dass auch Alex nichts darüber sagte. Zudem vermittelte mir mein eigenes Schweigen nach kurzer Zeit das Gefühl, dass ich es gewesen war, die eine Schuldtat begangen hatte. Ich war nicht vergewaltigt worden, ich hatte es einer anderen angetan.
    Manchmal, wenn der schwarze Wagen vor unserer Haustür zum Halten kam, fühlte ich mich schwach und gedemütigt, doch nach einigen Wochen wollte es mir scheinen, dass Alex und ich stille Verbündete seien. Irgendwann ließ mein Ekel nach, und ab da flößten Alex und sein Wagen mir Kraft ein. Seine Anwesenheit bereitete mich auf mein neues Leben vor, seine Berührungen waren nur ein Vorspiel zu Rutgers Gier. In Alex’ Wagen war ich seine Komplizin. Es konnte nicht anders sein.
    An dem besagten Nachmittag schaute Alex noch einmal in den Rückspiegel, versicherte sich, dass alles in Ordnung war und ließ den Wagen an. Es knirschte unter den Reifen, wie wir uns von der alten Scheune entfernten. Über die Musik hinweg sagte er, »Das nächste Mal kannst du ruhig etwas gefühlvoller sein.«

CHRISTIAN
    In unserer Stube standen die Familienfotos auf einer kleinen Anrichte. Nicole und Ingrid, als sie noch klein waren, in unserem Garten, beide in weißen Kleidchen. Nicole bei ihrer Konfirmation vor der Kirche. Das Hochzeitsfoto meiner Eltern, in Fricks Krug aufgenommen. Meine Großmutter hielt ihre Augen geschlossen, und das Gesicht eines Blumenkindes war unscharf, weil es nicht stillhalten wollte. Ich war auf keinem einzigen Bild zu sehen. Meine Mutter hatte mich aus der Familie verbannt.
    Ein Foto meines Vaters interessierte mich seinerzeit besonders. Es zeigte ihn als jungen Mann in Lederjacke, die er über seiner weißen Uniform trug. Neben ihm stand Bäcker Meier, der die rechte Hand auf die Schulter meines Vaters gelegt hatte und ebenfalls in die Kamera lachte. Beide Männer trugen Mützen mit steifen, schwarzen Schirmen, fast wie die Polizei, und sie standen vor ihren Lieferwagen, die nebeneinander geparkt waren. Im Hintergrund entluden einige Männer Milch und große Kisten voller Brot. Sie trugen Uniformen und hatten kurzes Haar und sahen wie Soldaten aus.
    Meine Mutter hatte nicht ein einziges Bild meines toten Vaters fortgenommen, aber es war dieses eine, das ich mir jeden Tag anschaute. Ich war in Sylvia Meier, die Tochter des Bäckers, verliebt, und dieses Foto schien unsere Familien miteinander zu verbinden Es bereitete mir Freude, aber doch auch ein gewisses Unbehagen, die beiden Männer so zusammen strahlen zu sehen. Mir war, als hätte mein Vater noch vor meiner Geburt in mein Leben und meine Liebe eingegriffen. Manchmal, wenn ich mir Sylvias Gesicht anschaute und die Finger über ihre Nase und Wangen gleiten ließ, kam es mir vor, als ob mein Vater meine Hand führte, und Sylvia nicht mich, sondern meinen Vater sah.
    Als mich eines Morgens meine Mutter mit dem Bild in der Hand erwischte, schlug sie auf mich ein. Meine Nase fing zu bluten an, einer ihrer Ringe ritzte mir die Stirn auf. Schon oft hatte der Lehrer mich ermahnt, mich nicht zu prügeln – ich sähe schrecklich aus. Meine weiße, fast durchscheinende Haut war wie eine Chronik, die den Zorn meiner Mutter verzeichnete.
    In der Nacht verließ ich das Haus, um mich mit Sylvia an unserem Stammplatz am Ufer der Droste zu treffen. Sylvia hatte viele Jungen geküsst, und sie hatte es schon mit einigen getrieben. Sie
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