Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
Vom Netzwerk:
Gegend«, sagt er zu seiner Begleiterin. Er hat die Sonnenbrille ins Haar geschoben, obwohl es draußen dunkel ist und es in Strömen regnet. »Es ist flach, sumpfig und ständig grau. Und schau dir die Leute hier an.« Er senkt die Stimme nicht, als er weiterlästert. »Inzucht. Schmale Schultern, breite Hüften und große Füße. Jeder ist hier mit jedem verwandt. Und sie glauben noch immer an Gespenster.«
    »Ich habe die Irrlichter selbst gesehen.« Ich sollte den Mund halten, aber der Nachmittag liegt mir wie ein Wackerstein im Magen. Ein Streit ist so gut wie der andere.
    Der Typ dreht sich zu mir um. »Wirklich?«, sagt er und lacht höhnisch. »Wie viel Schnaps hattest du getrunken, Alter?«
    Ich sehe ihn scharf an, die Frau an seiner Seite redet leise auf ihn ein. Ich proste ihnen zu und sage: »Manchmal kann man sie heute noch sehen.«
    Der Typ lacht wieder. »Buh!«, ruft er aus. »Wie furchterregend.«
    In dem Moment kommt Alex an den Tresen zurück. »Halt’s Maul«, fährt er den Typen an. »Wenn’s dir hier nicht passt, bezahl und hau ab.«
    Dann breitet er vor mir einen Bauplan auf der Theke aus. »Ich werde die alten Ställe abreißen und größere bauen«, sagt er und zeigt auf einen Punkt auf dem Papier. »Das Haus ist verrottet, die Ratten haben die Böden und Balken verpisst und verkackt. Aber das Fundament ist noch intakt, wir werden das Haus fast originalgetreu wieder aufbauen. Hab die alten Pläne ausgebuddelt. Außen bleibt alles beim Alten, nur innen müssen wir modernisieren. Wird alles schnieke. Zwanzig Hotelzimmer, alle mit Bad, ein paar mit Whirlpools. Zimmer auf alt gemacht, alles gediegen.« Er spricht weiter, aber er scheint plötzlich selbst das Interesse verloren zu haben. Er senkt den Blick, seufzt und sieht mich dann fragend an. »Die Linde – verrücktes altes Weib, was? ›Du hast sie auf dem Gewissen‹.« Er reibt sich die Wange, scheint noch immer ihre Hand zu spüren. Er sieht mich in Erwartung einer Antwort an, und ich gebe ihm keine. »Naja«, sagt er leise und grunzt verächtlich. »Kann doch nichts dafür, dass die beiden sich nicht vertragen konnten.« Er macht eine gekränkte Miene. »Ist doch wahr.«
    Hilde gesellt sich kurze Zeit später zu uns. Sie wird das Hotel leiten, sagt sie, Alex wird sich nach einer neuen Aushilfe für die Gaststube umsehen müssen. »Nicht zu jung, nicht zu füllig«, fügt sie mit einem Lachen hinzu und streichelt ihrem Mann die Wange. Alex legt ihr einen Arm um die Schulter. »Sie sorgt sich um mein Herz«, sagt er. »Wenn Gott uns das Können nimmt, warum nimmt er uns nicht auch das Wollen?« Sein Mund ist voller Gold.
    *
    Die Zeit spielt keine Rolle. Trotz des Regens gehe ich nicht direkt nach Hause. Allein in der Nacht, wenn der Lärm der Autos verstummt und die Straßen leer sind und ich zum Moor hinausgehe, kann ich mit den alten Bildern in meinem Kopf für mich sein, kann ich meine Erinnerungen an Hemmersmoor ausbreiten und in ihnen umherstreifen. In der Dunkelheit versammeln sich dann die Hexen im Moor, geht Heidrun Brodersen noch immer hüftenschwingend durch unser Dorf. Nachts treffen sich die Verliebten bei den Kanälen.
    Unweit des Dorfes begegne ich einer dunklen Gestalt. Instinktiv will ich ausweichen und mich abwenden, aber dann halte ich inne; es treibt nicht viele Menschen im Regen aufs Moor hinaus.
    Linde trägt einen langen Mantel über dem Kleid, ihr Haar ist nass und liegt ganz platt und strähnig auf ihrem Schädel. »Christian«, sagt sie. »Du auch noch wach?«
    »Was machst du hier?« frage ich. »Warum warst du nicht in der Gaststube?
    »Hast du eine Zigarette?«
    Ich gebe ihr eine, bekomme sie aber erst nach mehreren Versuchen angezündet. Wind und Regen pusten das Feuer immer wieder aus.
    »Ich werde Hemmersmoor verlassen«, sagt sie plötzlich und nickt mehrere Male.
    »Ja«, sage ich.
    »Jeden Tag gehe ich die Dorfstraße auf und ab, jeden Tag sehe ich die gleichen Menschen, die gleichen Häuser. Aber ich bin nie fortgegangen. Es war wie ein Fluch. Ich konnte nicht fort.«
    Ich nicke.
    Linde nimmt einen tiefen Zug und sagt, »Ich hoffe, dass Alex verreckt.«
    Ich nicke erneut und zünde mir selbst auch eine Zigarette an. »Er sieht mir ganz gesund aus.«
    Sie lacht. »Hat er dir die Baupläne gezeigt? Hast du mit ihm angestoßen?«
    »Natürlich«, sage ich.
    »Du hattest nie eine Seele.« Sie sagt das ohne Zorn, ihr liegt nichts an mir. »Du warst immer ein Gespenst.«
    Ich nicke noch einmal. Ich sage:
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher