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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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Lieferwagen standen, hatte ich kürzlich selbst betreten – staunend hatte ich die großen Löffel und Schöpfkellen betrachtet.
    Ich lief vor Scham rot an und fühlte mich gedemütigt. Ich hatte dieses Gebäude, das ganze Dorf, in dem es war, nicht nur als Letzter entdeckt – mein Vater hatte es lange vor mir betreten. Noch bevor Sylvia mich in die Baracken geführt hatte, lange bevor die Menschen aus dem anderen Deutschland nach Hemmersmoor kamen, hatten mein Vater und Bäcker Meier dieses andere Dorf mit Brot und Milch beliefert.
    Am selben Abend lief ich zu Sylvia. Sie sagte, sie habe keine Zeit, sie würde sich mit ihrem neuen Freund treffen. Sie knöpfte mir das Hemd auf und suchte meine Haut nach neuen Wunden und Kratzern ab. Ihr Haar war ungekämmt, sie roch nach Sommer und Schweiß. Die Haare unter ihren Armen waren feucht, und ich rieb mein Gesicht daran.
    »Ich werde bald fortgehen«, sagte ich und versuchte, mich an den schiefen Klang der Worte zu gewöhnen. »Willst du mitkommen?« Ich wollte weg, aber wann immer ich an das dachte, was außerhalb des Dorfes lag, hatte ich nur vage Vorstellungen und sah gleißende Landschaften ohne Konturen oder Farben vor mir. Und wann immer es mir gelang, mir die Straßen Hamburgs oder einer anderen großen Stadt auszumalen, war darin für mich kein Platz mehr. So schön das Bild auch aussehen mochte, ich blieb darin unsichtbar.
    »Nicht wirklich«, sagte Sylvia. Sie steckte sich meinen Schwanz zwischen die Beine und seufzte, als koste sie ein besonders leckeres Stück Kuchen.
    Ich blieb den nächsten Tag in Hemmersmoor und auch die nächste Woche. Mein gepackter Koffer blieb unter dem Bett verstaut. Und noch vor dem Winter waren die Menschen aus dem Osten verschwunden; die Baracken waren sowieso nie für sie bestimmt gewesen.
    Niemand trauerte ihnen hinterher, und was aus den Menschen geworden war, die vor ihnen dort gelebt hatten, das interessierte ohnehin niemanden. Niemand in Hemmersmoor schien zu wissen, wer die Leute in dem Lager damals gewesen waren. Niemand erinnerte sich an die Menschen, die dort gelebt und gearbeitet und in den Baracken geschlafen hatten. Und die dort gestorben waren. Diese Menschen hatte es nie gegeben.

EPILOG
    Am Abend nach der Beerdigung, als ich auf ein Bier in der Gaststube vorbeischaue, steht Hilde, Alex’ Frau, hinter der Theke und nickt mir zu. Sie ist beleibt, ihr Haar kurz geschnitten und rötlich gefärbt, mit blonden Strähnen. Kaum jemand erinnert sich noch daran, dass sie einst mit Alex’ Bruder Olaf verheiratet war. Hildes zweite Ehe ist kinderlos geblieben, und Gedanken an die Zukunft bereiten Alex Unbehagen. Er beklagt sich über Sodbrennen. Wem soll er den Krug und den neuen Reiterhof vererben?
    Fotografien von lokaler Prominenz hängen an der Wand. Kurze Widmungen preisen Alex, seine Küche und seinen Schnaps. Ein Sänger in einem weißen Anzug mit krausem Haar, der einst von lauen Nächten in Neapel und dem Sternenhimmel über Capri sang, lacht mir zu; ein Nachrichtensprecher sieht seriös drein, und der Bürgermeister von Bremen trägt eine dunkle Brille und entblößt die Zähne.
    Doch Martin ist trotz Alex’ Einladung nicht erschienen. Von Zeit zu Zeit kauft Alex seinem Schulfreund teure Ölgemälde ab, Bilder der hiesigen Landschaft mit drohenden Wolkengebirgen und blühenden Heidesträuchern. Darin nimmt der Himmel fast den ganzen Raum ein und droht, die Häuser und Höfe zu zerdrücken. Alex behauptet, dass Martins Geschäft ohne ihn aufgeschmissen sei. Er hat mir gesagt, dass er sich der Familie annehmen wird, sollte Martin etwas zustoßen. Gott weiß, was sonst aus ihnen werden soll. Er hat Sparkonten für Martins und Veronikas Kinder angelegt, aber er hat noch kein einziges Mal mit ihnen gesprochen. Martin sorgt dafür, dass Alex sie nur von ferne zu sehen bekommt.
    Auch Linde erscheint nicht in der Gaststube. Vielleicht hat sie endlich ihren Frieden gefunden. Vielleicht hat sie es Anke endlich heimgezahlt. Oder vielleicht wartet sie noch immer auf ihr Stipendium, wartet noch immer darauf, dass der schwarze Mercedes langsam ins Dorf gefahren kommt, Anke vor ihrem ärmlichen Haus aussteigt, das Gartentor öffnet und an die Haustür klopft. Aber vielleicht hasst sie Alex noch viel mehr und kann ihm nicht verzeihen, was er ihrer verhassten Freundin einst angetan hat.
    Ich schaue mich um, höre, wie ein junger Typ sich verächtlich über die Legenden von Riesen und Zauberern äußert. »Was für eine trostlose
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