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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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dass er eine Baracke außerhalb des Dorfes gesehen hat. Er sagte, da ist ein großes, eisernes Tor.« Ich starrte auf mein Mettwurstbrot, ich vermochte es nicht, ihr in die Augen zu schauen.
    »Vielleicht hat er eines der Wochenendhäuser hier in der Gegend gesehen«, meinte meine Mutter. Der Stuhl meines Vaters durfte nicht berührt oder bewegt werden, und jeden Abend stellte meine Mutter einen Teller für ihn auf den Tisch.
    »Ist wahrscheinlich nur eine Scheune«, antwortete meine Schwester. »Thomas ist nicht sehr helle. Dumm geboren und nichts dazugelernt.«
    Nach Einbruch der Nacht versuchte ich erneut, das Tor zu finden. Wie merkwürdig, dass meine Füße mich in der Dunkelheit wie von selbst hintrugen. Ich hoffte, ich würde Sylvia an der Baracke treffen.
    Ich kletterte über den Zaun und fand die Baracke dunkel und verriegelt vor. Ich lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören. Anstatt durch das Fenster zu steigen, folgte ich dem gepflasterten Weg.
    Nach nur fünfzig Metern erschien eine weitere Baracke zu meiner rechten, danach eine dritte. Eine vierte tauchte auf, und die Straße führte noch immer weiter. Zu meiner Linken ragte eine große, scheunenartige Halle auf, und durch ein unverriegeltes Tor, das ich mit Mühe aufschob, gelangte ich ins Innere. Es war stockfinster, aber nach ein paar Augenblicken konnte ich die Umrisse von großen Maschinen ausmachen, die wie Reptilien am Boden kauerten. Irgendetwas huschte vor mir umher, Glas knirschte unter meinen Schritten. Ich pfiff, und das Echo war fürchterlich. Ich rannte davon.
    Ich folgte der Straße und kam an einen Bahnübergang. Hemmersmoors einziges Gleis endete hinter Brümmers Fabrik – konnte es dasselbe Gleis sein? Oder hatte dieses Bahngleis nichts mit der Dampflokomotive zu tun, die wir früher immer so bewundert hatten?
    Von einem Ende unseres Dorfes zum anderen zu gehen, dauerte zwanzig Minuten. Ich war bereits zwanzig Minuten der schmalen Straße gefolgt, als ich an eine Baracke gelangte, deren Eingangstür lose in den Angeln hing. Ich stellte drinnen fest, dass auch hier, wie im ersten Gebäude, das Licht noch immer funktionierte. Ein kurzer Flur führte in eine riesige Küche mit mehreren, im Boden verankerten, viereckigen Bratpfannen. Es gab Gasbrenner, die so groß wie der ganze Herd bei uns zu Hause waren, und Töpfe, in denen ich mich hätte verstecken können. Gewaltige Kochlöffel und Schneebesen lagen über den Boden verstreut, wie die Werkzeuge einer Familie von Riesen.
    Eine Halle mit Holzfußböden und langen Bänken darin grenzte an die Küche, und obschon einige Stühle zerbrochen waren, schien es, als könnten sich jeden Moment hunderte von Menschen zum Essen einfinden. Wer hatte hier gelebt? Ich traute mich nicht, das Licht wieder auszuknipsen.
    Wo die Straße endete, führte ein unebener Pfad weiter. Während ich zwischen Büschen und niedrigen Bäumen entlangging, gab ich den Gedanken auf, Sylvia und ihren neuen Freund zu finden. Ich hatte ein Dorf entdeckt, das größer als mein eigenes war, aber dessen Straßenlaternen nicht mehr schienen und in dem niemand wohnte. Es lag so nah an Hemmersmoor, und doch schien dieser Ort nichts davon zu wissen. Da war niemand und nichts, weder Autos noch Fahrräder noch Mopeds. Ich hatte mich oft des Nachts im Dorf herumgetrieben und mich mit Sylvia an dem einen oder anderen dunklen Ort getroffen. Auch nachdem alle Lichter um uns herum ausgegangen waren, verblieb doch eine gewisse Dichte, die wir auf unserer Haut spüren konnten – Leute, die nicht allzu fern von uns in ihren Betten lagen und mit saurem Magen schlechte Träume träumten. Ich konnte ihre Anwesenheit spüren, genauso wie ich die kalte Nachtluft spürte, wenn Sylvia mein Hemd aufknöpfte. Die Luft hier fühlte sich verloren an.
    Der Sandweg endete vor einem von hohen Hecken umrandeten Feld, das größer als der Fußballplatz hinter unserer Schule war. Hier schien es noch stiller zu sein als im übrigen Dorf. Waschbetonplatten bahnten einen Weg über das Feld. Es gab ein Denkmal, davor lagen verrottende Kränze. Es war zu finster, die Inschrift zu entziffern, aber als ich mich zu einem der Kränze niederbeugte, konnte ich ein Wort auf der verschmutzten Schleife lesen. »Souvenir«. Ich war auf einen Friedhof geraten. Auf den Friedhof eines Dorfes, von dem ich nichts gewusst hatte. Wer hatte die Kränze hier niedergelegt?
    Auf dem Rückweg fing ich plötzlich zu laufen an. Gar nicht aus Furcht, sondern aus einem
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