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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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Gleisenden, die die Waggons davor bewahrten, in den Fluss hinabzurollen, und warteten auf die Ankunft eines Zuges.
    Es gab keinen Fahrplan, und an den meisten Tagen warteten wir vergeblich. Dennoch hielt uns die bloße Aussicht, die kleine, schwarze Dampflokomotive mit zwei oder drei niedrigen Waggons zu sehen, gebannt.
    Die Fabrik steht nun leer, die Gleise sind mit Unkraut überwuchert. Ein Feuer hat vor einigen Jahren vernichtet, was von der Werkstatt noch übriggeblieben war. Was jenseits der Fabrik, außerhalb unseres Dorfes liegt, haben wir alle gewissenhaft vergessen. Das Kreisamt plant, dort ein Museum zu eröffnen, aber wer wird dann noch unsere Gemälde und Souvenirs kaufen wollen? Die Menschen im Dorf schütteln die Köpfe. Warum sollen wir erneut leiden? Wir hatten nichts damit zu tun.
    Die Zeit spielt keine Rolle. Ich war jung und wusste nichts von unserer Zeit. Es hatte in unserem Dorf nie eine andere Zeit gegeben. In Hemmersmoor ging sie nicht mutig voran. Sie hinkte ein wenig, verlief sich oft und kam immer wieder an Fricks Tresen zum Stehen. In einer der Geschichten von Verrat, Missgunst und Hexerei.
    Doch jetzt hat die Zeit einen wagemutigen Sprung getan. So sehr ich auch suche, die dunklen Ecken Hemmersmoors gibt es nicht mehr, die Häuserfassaden strahlen frisch verklinkert, und mein Gedächtnis führt mich in die Irre. Ich bin zurückgekehrt, aber nicht in das Dorf, das ich verlassen habe. Das Dorf gibt es nicht mehr, besteht nur noch in meinen Erinnerungen und Träumen. Wenn ich heute des Nachts durch die Straßen gehe, dringt blaues, flackerndes Licht aus allen Fenstern. Ich habe die letzten Jahrzehnte nicht hinter dem Mond verbracht, aber in meinen Erinnerungen an Hemmersmoor hat das Fernsehen keinen Platz.
    Dass unser Dorf nun zur gewöhnlichen Welt gehört, lässt mir den bleichen Jungen von damals wie einen Geist erscheinen. Vielleicht ist das gut so, vielleicht macht es mir den Aufenthalt hier überhaupt erst möglich, vielleicht würde ich andernfalls ersticken. Aber die Abwesenheit dessen, was ich noch so klar vor mir sehe, schnürt mir auch so die Kehle ab.
    Das Große Haus steht auf dem Sandhügel, unter dem der Riese Hüklüt begraben liegt. Um nicht im Moor zu versinken, streute er Sand aus einem großen Sack auf den Weg. Doch es half ihm nichts, und das Gutshaus der Familie von Kamphoff ist sein Grabstein. Die Giebel und die kleinen Türme, der gelbe Stein und die gekieste Auffahrt waren den Dorfbewohnern unverständlich.
    Es ist das erste Mal, dass ich hierher hinausfahre. Der Frühlingstag ist wie ein junger Hund, unbekümmert und verspielt, und ich lasse das Fenster hinunter, die Luft ist sanft und kitzlig, und ich reibe mir unentwegt das Gesicht. Wolken hängen über dem Moor, es mag später regnen, aber jetzt schimmern sie rosig. Das Gras am Wegesrand ist schon wieder grün.
    Als meine Familie noch in Hemmersmoor lebte und Johann von Kamphoff über den Besitz herrschte, war es nur wenigen Dorfbewohnern vergönnt, durch die Gärten zu schlendern oder das Gutshaus zu betreten. Von Zeit zu Zeit erschien die schwarze Limousine der von Kamphoffs in unserem Dorf, das viel zu klein für solch ein Auto zu sein schien, und meist war es der Enkel des alten Besitzers, der aus dem Wagen stieg, um dem einen oder anderen Mädchen nachzustellen.
    Die Gartenanlagen sind etwas verkommen, aber die Weitläufigkeit des Besitzes gibt den Legenden Recht. Die Büsche sind mit grünen Tupfern übersät, die Rasenflächen dehnen sich vor uns aus. In der Ferne steht das Labyrinth, von dem im Dorf oft gemunkelt wurde, dass Leute darin verschwanden. Die Hecken sind dicht und undurchdringlich und übermannshoch.
    Alex Fricks Opel steht auf dem gekiesten Hofplatz, er lehnt gegen seinen Kotflügel und raucht eine Zigarette. Ein großer Mann, inzwischen etwas gebeugt, massig, aber nicht ungeschlacht. Sein dunkler Anzug ist maßgeschneidert, die Krawatte reine Seide. Alex hat sich der Witwe seines Bruders angenommen, hat sie vor langen Jahren geheiratet, und zusammen haben sie Fricks Krug ausgebaut. Im Sommer sitzen Ausflügler auf der Terrasse, bei Kaffee und Erdbeerkuchen, und unterhalten sich über die malerische Provinz. Alex’ Augenbrauen sind in der Mitte zusammengewachsen und fast weiß, aber sein Gesicht hat sich etwas Jungenhaftes bewahrt. Ein Lächeln spielt um seine fleischigen Lippen.
    »Willst du den Preis hochtreiben und mir das Geschäft vermasseln?«, fragt er und lacht. »Du weißt, dass du
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