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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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Ankes Ehemann, unter dessen Inschrift seit Jahren schon ihr eigener Name auf das Begräbnis wartet.
    Wir gehen langsam zum kleinen Familienfriedhof hinüber, und Alex macht sich auf die Suche nach einem bestimmten Grabstein. Er findet ihn etwas abseits, so als ob er nicht recht hierher gehört. Es ist das Grab seiner Schwester Anna und ihrer kleinen Tochter. »Wollten uns nie einen Platz einräumen«, sagt er und sammelt ein paar tote Zweige vom Grab. »Nicht einmal nach ihrem Tod wussten sie, wohin mit ihnen. Und die da«, er weist aufs Haus, als ob Anke noch immer darin leben würde, »hat den Stein noch umgesetzt. Wollte nicht an ihre Vorgängerin erinnert werden.« Er richtet sich wieder auf und schaut umher. »Anna war die Frau des Hauses, und mich haben sie zum Chauffeur gemacht.« Er lacht und spuckt aus. Er hat Pläne, das verkommene Gut in einen Reiterhof umzubauen. Seine Anwälte prüfen schon die Bücher der von Kamphoffs.
    Alex hatte Ankes Tod bemerkt. Er war es, der jede Woche Lebensmittel vor ihrer Tür abstellte und das Leergut wieder abholte. »Hab die alte Schrulle nie gesehen«, sagt er. »Als sie die Tür aufgebrochen haben, musste einer der Polizisten kotzen, so sehr stank es da drinnen. Die hat sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, auf die Toilette zu gehen.«
    In den alten Tagen wäre niemand aus dem Dorf zu einer Beerdigung auf dem Gut eingeladen worden, doch heute sind wir vier aus Hemmersmoor die Einzigen, die dem Leichenbestatter und seinen Helfern Gesellschaft leisten. Der schwarze Mercedes holpert über den alten Weg nach Groß Ostensen auf uns zu, und drei Männer steigen aus dem Wagen und gehen in unsere Richtung. Alex kommt ihnen zu Hilfe, und gemeinsam tragen sie den Sarg aus weißgelacktem Holz zur offenen Grube. Das Familienwappen der von Kamphoffs ist in Gold auf die Seiten gemalt worden. Sogar im Tod ist Anke auf Etikette bedacht.
    Nachdem die Männer den Sarg in die Grube senken, sagt der Leichenbestatter, ein Mann in einem schwarzen Anzug und mit dünnem Haar, ein paar Worte. Er spricht von Bodenständigkeit, festem Willen, einem Glauben an die Stärke von Gemeinschaft und Nächstenliebe. Er stammt aus Groß Ostensen und kennt uns nicht. Seine Worte kommen aus den wohlmeinenden Kalendern, die wir jedes Jahr an der Tankstelle bekommen. Alex, Linde und Martin hören mit versteinerten Minen zu, doch mir scheint, dass Lindes Lippen sich von Zeit zu Zeit kräuseln – vor Kummer oder aus Belustigung, das kann ich nicht sagen. Nach der Rede wird das Grab zugeschaufelt. Die rosigen Ränder der Wolken verdunkeln sich zusehends, ein süßlicher Geruch liegt in der Luft; vielleicht ist es der bevorstehende Regen, vielleicht der geschmackvoll bunte Kranz, den die Männer schließlich aufs Grab legen.
    Als der Leichenbestatter sich entfernt und der schwarze Diesel davonfährt, tritt Linde auf das Grab zu, betrachtet die Inschrift und umkreist das Grab, als ob sie sichergehen möchte, dass Anke auch wirklich nicht herauskann. Ihr Kleid ist so bunt wie der Kranz, aber verwaschen. Sie spuckt laut aus. »Du mieses Stück!« sagt sie, »Da hast du«, und stampft auf der frischen Erde herum.
    Alex tritt rasch auf sie zu, redet besänftigend auf sie ein, versucht sie vom Grab wegzuführen, doch Linde schüttelt seinen Arm ab. »Leck mich am Arsch, Alex. Tu nur nicht so heilig, du konntest sie nicht leiden.« Als er noch immer nicht von ihr ablassen will, schlägt sie ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie muss sich dafür auf Zehenspitzen stellen. »Fass mich nicht noch einmal an«, sagt sie. »Du hast sie auf dem Gewissen.« Dann stellt sie sich breitbeinig und mit dem Rücken zu uns hin, beugt sich vornüber, zieht den Rock über die Hüften und zeigt uns, dass sie keine Unterhosen trägt, und pisst aufs Grab. Alex schüttelt den Kopf, klopft seinen dunklen Anzug ab, als ob er mit einem Mal schmutzig geworden wäre. Martin wendet sich ab und geht ohne ein weiteres Wort auf seinen Lieferwagen zu. Alex hebt eine Hand, ruft ihm nach, »Komm doch heut Abend im Krug vorbei«, aber Martin reagiert nicht. Er will es wohl nicht gehört haben.
    »Fertig«, sagt Linde schließlich und lässt ihren Rock herunter, streift ihn wieder glatt. Sie starrt Martins Lieferwagen ärgerlich nach, bevor ein kleines Lächeln über ihr Gesicht krabbelt. »Der Sarg hätte ein Fenster haben sollen. Ein großes rundes Fenster. Teufel auch, der ganze Deckel hätte aus Glas sein sollen.« Sie tritt noch einmal auf das
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