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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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Grab zu und sieht sich ihr Werk an. »Ich hoffe nur, dass sie mich von der Hölle aus sehen kann.« Das Lächeln breitet sich über ihr ganzes Gesicht aus. Sie sieht fast schön aus.

MARTIN
    Wenn wir im Oktober das Erntedankfest begingen, fanden nach dem Gottesdienst Feierlichkeiten in Fricks Krug statt, und am Nachmittag, als die Tische und Bänke vom Bier klebrig waren, liefen die Dorfbewohner auf den Platz hinaus, um dem alljährlichen Kochwettbewerb beizuwohnen.
    Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot – das alte Sprichwort beschrieb die Kolonisierung des Teufelsmoors, aber unser eigenes Brot war noch immer hart und grau und sauer.
    Sich für den Kochwettbewerb anzumelden war eine kostspielige Angelegenheit; die Regeln schrieben vor, dass jedes Gericht für mindestens vier Dutzend Leute zubereitet werden musste. Es gab drei Disziplinen: bester Eintopf, bester Braten und bester Butterkuchen. Für Butterkuchen war unser Bäcker Meier berühmt, und er lieferte seine Backbleche zu Beerdigungen wie zu Hochzeiten aus. Bäcker Meier gewann den Wettbewerb jedes Jahr, ohne jede Konkurrenz, denn wer wollte sich mit ihm messen?
    Der Eintopf-Wettbewerb wäre für einen Fremden – aber es kamen nie irgendwelche Fremden – ein unappetitliches Schauspiel gewesen. Man muss im Norden aufgewachsen sein, um Labskaus oder Birnen, Bohnen und Speck wertschätzen zu können.
    Der Braten-Wettbewerb war gewiss der beliebteste, und je mehr Köche teilnahmen, desto größer war der Schmaus für uns anderen. Keiner konnte dem Schweinebraten der Doktorsfrau widerstehen oder vom Rinderbraten der Frau des Briefträgers genug bekommen. Und diesen Herbst war die Konkurrenz ungewöhnlich groß und verheißungsvoll. Vier Familien nahmen am Eintopf-Wettbewerb teil, fünf würden um die Bratenkrone kämpfen, und Bäcker Meier wurde zum ersten Mal in fünfzehn Jahren herausgefordert – von meiner Mutter, Käthe Schürholz.
    Von Komplimenten über ihren Butterkuchen beflügelt – mein Vater, der Dorfgendarm, beharrte darauf, dass der es im ganzen Lande mit jedem Kuchen aufnehmen könnte – kündigte meine Mutter in der Woche vor Erntedank ihre Teilnahme an. Ihre Hände zitterten, als sie sich in die Liste eintrug.
    In den Tagen vor dem Wettbewerb blieb ich so lange wie möglich in der Schule und besuchte dann den einen oder anderen Freund. Falls Alex im Krug helfen musste und Christian nicht aufzufinden war, ging ich mit Anke Hoffmann zu ihr nach Hause und spielte den ganzen Nachmittag mit ihr und Linde Janeke. Geduldig kämmte ich das Haar ihrer Puppen und hörte mir Geschichten von verwunschenen Prinzen und unsterblich verliebten Prinzessinnen an, in der Hoffnung, dass Frau Hoffmann mich später zum Abendbrot einladen würde. Jede Puppe hatte einen Namen. Manche hießen nur Püppi oder Baby, aber die besseren hießen Rosemarie und Kunigunde. Zwei der Puppen sahen sich sehr ähnlich und steckten beide in geblümten Kleidern; sie hießen Anke und Linde. Die leibhaftigen Freundinnen sahen fast wie Zwillinge aus, und sie trugen oft die gleichen Farben, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Doch Anke trug funkelnde Spangen und Ketten und ihre Schuhe sahen immer wie poliert aus. Sogar ihre Puppen schienen glanzvoller als die von Linde, und sie hatte doppelt so viele wie ihre Freundin und eine ganze Schublade voller Puppenkleider. Sie bestand darauf, dass ihre Puppen täglich die Wäsche wechselten.
    Ich erzählte Christian und Alex nichts von diesen Nachmittagen und hoffte, dass mich die Mädchen und Ankes Brüder nicht verpetzen würden, aber immer blieb ich so lang, wie mich die Hoffmanns duldeten. Erst in den späten Abendstunden kehrte ich heim, und weder meine Mutter noch mein Vater schienen meine lange Abwesenheit zu bemerken.
    Jeden Tag backte meine Mutter mehrere Bleche Butterkuchen. Sie versuchte die Lockerheit zu verbessern, die Konsistenz, den goldenen Glanz und die Saftigkeit zu perfektionieren. Sie experimentierte mit verschiedenen Buttersorten und suchte nach dem Königsweg, den Kuchen mit Zucker zu bestreuen. Wenn sie von mir Notiz nahm, dann höchstens um mir einen Teller mit einem großen Stück vorzusetzen. »Iß, Martin«, befahl sie mir, doch mir wollte es nicht schmecken. Ein falsches Wort, und sie war den Tränen nahe; kein Lob wollte je genügen.
    Meine Schwester Birgit war dreizehn, also fast doppelt so alt wie ich, und ging am Nachmittag für gewöhnlich mit Jungs aus. Doch meine Mutter zwang
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