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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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sie, in der Küche zu helfen, was Birgit mit einem so ernsten und verängstigten Gesichtsausdruck tat, dass man meinte, sie habe ein Gespenst gesehen. Eine abrupte Bewegung, und ihre großen Augen würden ihr aus dem Kopf fallen und unter den Ofen kullern.
    Mein Vater tat es wie ich und kam so spät wie möglich nach Hause. Er zog eine Kneipenschlägerei, einen Einbruch und sogar einen Raubüberfall der mörderischen Atmosphäre in unserem Hause vor. Zu später Stunde holte ich ihn in Fricks Krug ab, wo ihm seine Uniform so viele Gläser Bier und Schnaps bescherte, wie er nur trinken konnte. »Natürlich habe ich ihr Komplimente gemacht«, hörte ich ihn eines Nachts klagen. »Das erwartet sie von mir. Wenn ich ihr nicht jedes Mal erzähle, wie köstlich ihr Kuchen schmeckt, hält sie mich für undankbar. Wenn ich Kuchen essen will, muss ich sie loben.«
    Peter Brodersen, dessen Frau selbst mit einem Braten am Wettbewerb teilnehmen würde, legte meinem Vater tröstlich eine schwere Hand auf die Schulter.
    »Wird schon schiefgehen«, sagte Jens Jensen, der alte Torfstecher.
    »Wird es nicht«, seufzte mein Vater. »Ihr Kuchen ist gut genug für uns, aber er hat nicht Meiers Qualität. Wenn sie verliert, werde ich drei Wochen nichts als trocken Brot zu essen bekommen. Sie wird verlacht werden und sich gedemütigt fühlen. Sie wird sich nie wieder in Meiers Bäckerei sehen lassen können.«
    *
    Hinzugezogene wurden in Hemmersmoor mit Argwohn betrachtet, und sie blieben ›neu‹, selbst nachdem sie zwanzig Jahre im Dorf gelebt hatten. Unser Nachbar Bernd Fitschen, der als Kleinkind mit seinen Eltern nach Hemmersmoor gezogen war, und dessen verbliebenes Haar bereits weiß und dessen Sohn schon verheiratet war und selbst Kinder hatte, wurde noch immer ›der fremde Bernd‹ genannt. Seine Familie hatte zuvor zehn Kilometer entfernt gelebt, in Groß Ostensen.
    Von Neuen wurde erwartet, dass sie sich anpassten, keinen Ärger machten und sich auch sonst unauffällig verhielten. Und so hätte Helga Vierksens Teilnahme in gleich zwei Disziplinen – Eintopf und Braten –, nachdem sie erst seit drei Jahren im Dorf gewohnt hatte, zu jeder anderen Zeit für Empörung gesorgt. Doch nicht in diesem Jahr. Dieses Mal stand die herkulische Aufgabe meiner Mutter im Blickpunkt, und die eifrigen Zungen von Hemmersmoor fanden kaum die Zeit, sich anderen Themen zu widmen.
    Die Augenringe meiner Mutter wurden größer und dunkler, und ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Euphorie und Hoffnungslosigkeit. In der Nacht vom Freitag, zwei Tage vor dem Wettbewerb, hörte ich sie in der Küche, wie sie sich selbst verfluchte. »Du konntest dein Maul nicht halten, nicht wahr, du eitle Vettel?« sagte sie. »Wie Heidrun, Bertha und Gertrud, wie das ganze Dorf über dich lachen wird!«
    Ich schlich mich fort und lernte, Lindes Haar zu flechten. Es war braun und schwer und Anke zeigte mir, wie man es machen musste und lachte, als ich fertig war. Die Zöpfe waren ungleich lang und sahen albern aus. Linde sagte, es sei nicht so schlecht.
    Als mich die Hoffmanns endlich nach Hause schickten, war unsere Küche noch immer hell erleuchtet. Mein Vater kam nach Mitternacht zu mir ins Bett und flüsterte: »Martin, mach ein bisschen Platz, und um Himmels willen, geh nicht die Treppe hinunter.«
    *
    Wie hatte Hemmersmoor nur einen so sonnigen Tag verdient? Unser Wetter war so verregnet und trostlos, wie es nur sein konnte, aber ich kann mich an kein einziges Erntedankfest erinnern, zu dem nicht die Sonne geschienen hätte. Jedes Jahr trieb uns die Sonne aus den Betten und in die Kirche. Gestärkte Hemden und Krawatten und Kleider, die schon im Vorjahr nicht mehr gepasst hatten, machten den Gottesdienst zu einer ungemütlichen Angelegenheit, aber wenn es an der Zeit war, zu Fricks Krug hinüberzugehen, waren alle so milde gestimmt wie der Oktobertag. Nur die Besitzer des Gutshofes, der einige Kilometer außerhalb des Dorfes lag, ließen sich nicht blicken. Für sie war es womöglich ein unwürdiges Spektakel, und der Gedanke, dass sich die von Kamphoffs neben uns auf die rohgezimmerten Bänke hätten setzen können, war einfach lachhaft.
    Um ein Uhr, mit von Bier und Bommerlunder geröteten Gesichtern, gingen die Männer auf den Dorfplatz, wo die Frauen die verschiedenen Sektionen des Wettbewerbs aufgebaut hatten. Der Pastor steckte den Preisrichtern eine rote Schleife an die Jackenaufschläge oder an die Blusen, und die fünfzehn Männer und Frauen
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