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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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bewegte sich so träge und entspannt wie ein Mann, der weiß, dass er mit seiner Faust Löcher in die Wand schlagen kann.
    Er trat über die Türschwelle, ohne dass ich ihm Platz gemacht hätte – ich musste ihm ausweichen. »Mach dich nur fertig«, sagte er. »Ich warte hier unten.«
    »Wenn meine Eltern herausfinden…«, sagte ich.
    »Ich weiß, was ich getan habe. Aber ich habe eine Schwester verloren.« Alex schaute sich ruhig in unserer Diele um. »Ich weiß, wie das ist.«
    »Dafür kann ich nichts«, sagte ich zornig.
    »Das habe ich auch gar nicht gesagt.« Er lächelte. »Es scheint aber, als ob du ihren Platz einnehmen wirst. Rutger war in seinen Anweisungen sehr genau.«
    Ich spürte, wie ich rot anlief. Hatte Rutger etwa mit Alex über mich gesprochen? Es schmeichelte mir, dass Rutger wirklich Pläne für uns zu haben schien, doch wie konnte er sich nur seinem Fahrer anvertrauen? Ich musste mit Rutger reden. Und was hatte er sich überhaupt dabei gedacht, Alex einzustellen? Was hatte er sich dabei gedacht, ihn zu uns zu schicken? Wusste er denn nicht, was passiert war?
    »Vielleicht wird er mich feuern, wenn du ihn darum bittest.« Alex’ Lächeln wurde breiter, bis ich seinem Blick nicht mehr standhalten konnte. »Ich habe meinen Preis gezahlt, Anke«, fügte er ruhig hinzu. »Ich erwarte nicht, dass deine Eltern mich mit offenen Armen empfangen, aber was geschehen ist, war ein dummer Jungenstreich. Ich wollte deinen Bruder nicht umbringen.«
    Sprachlos stand ich in der Diele; ich hielt noch immer die Haarbürste in der linken Hand.
    »Ich werde im Wagen warten«, sagte Alex endlich. »Frau Hoffmann.« Er nickte leicht und rückte die Kappe zurecht.
    *
    Ich blieb fassungslos in der Diele stehen. Ich wollte meiner Mutter erzählen, was passiert war, ich wollte zu meinem Vater aufs Feld laufen, ich wollte Rutger sprechen. Schließlich lief ich die Treppen hinauf und in mein Zimmer und schminkte mich. Es gab gute Gründe für die Situation: Alex war Annas Bruder, er brauchte Arbeit, und auf dem Gut der von Kamphoffs war er seinem Vater nah, ohne sich viel im Dorf blicken lassen zu müssen. Und Rutger hatte wohl nie von Broders Tod gehört – unsere Angelegenheiten kümmerten die von Kamphoffs nicht.
    Zwanzig Minuten später öffnete Alex mir die Wagentür, schloss sie sanft, stieg selber ein und fuhr los, und schon bald hatten wir das Dorf hinter uns gelassen. Aus dem Radio kam leise Musik – eine Hamburger Sängerin gab Seemannslieder zum Besten, und der Himmel hing ganz nah und wattig über den Feldern. Es war einer jener Tage, die Sonne und Wärme versprachen, aber beides noch zurückhielten. Helles Grün zeigte sich an den Sträuchern am Straßenrand; alles sah blank und wie frisch geputzt aus. Ich trug nur eine leichte Strickjacke über dem Kleid. Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus. Vielleicht würde es noch regnen.
    Er schien mich zu ignorieren. Er öffnete das Fenster, und obwohl es mir ins Haar fuhr, und ich fortrücken musste, ließ er es offen. Auf halbem Weg, in der Nähe einer alten Scheune, die nach einem Feuer nie wieder benutzt worden war und deren rußgeschwärztes Dach und löchrige Wände ganz hinfällig aussahen, bremste Alex ab und ließ den Wagen langsam dahinrollen.
    »Eines Tages werde ich die Kneipe meines Vaters übernehmen«, sagte er.
    »Ja«, sagte ich.
    »Kann ich dir mit irgendwas helfen? Ich muss den alten Mann heute Nacht noch nach Bremen ins Theater fahren. Ich habe nicht viel Zeit.«
    Als Antwort auf diese sonderbare Frage schüttelte ich den Kopf. »Ich brauche nichts.«
    »Ich hab etwas Kaffee.« Er griff unter den Sitz und hielt einen Augenblick später eine orangefarbene Thermosflasche hoch. »Er ist nur lauwarm.«
    »Nein, danke«, sagte ich vorsichtig.
    »Ist nicht mehr heiß«. Alex hielt den Wagen an. Er schraubte die Plastikkappe ab und goss sich Kaffee ein. »Es macht mir nichts aus, dass er lauwarm ist. Der Körper nimmt lauwarme Flüssigkeit besser auf.«
    »Ach«, sagte ich.
    »Hab ich irgendwo gelesen.«
    »Gut«, sagte ich.
    Alex trank den schwarzen Kaffee und schaltete dann den Motor ab. Er öffnete die Fahrertür und atmete tief ein. »Von der Luft bekomme ich Schluckauf«, sagte er, rülpste in seine Hand und lachte. Dann stieg er aus, stellte seinen Becher auf dem Wagendach ab und streckte sich.
    »Wir sollten weiterfahren«, sagte ich. »Rutger wartet auf mich.«
    »Sicher«, sagte Alex. »Sicher doch.« Dann öffnete er die linke
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