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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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Mutter konnte ihr Glück kaum fassen, und wenn der schwarze Mercedes vor unserem Haus anhielt, hätte sie die ganze Nachbarschaft versammeln mögen, damit alle ihrer Tochter beim Einsteigen zusehen könnten. »Rutger hat ein Auge auf dich geworfen«, versicherte sie mir tagein und tagaus. »Halt ihn dir warm.« Sie wusste nicht, wie sehr ich ihren Rat befolgte. Ich schwieg von den Treffen, die Rutger von Zeit zu Zeit für uns arrangierte, und die er vor seiner Familie geheim hielt. Er trug noch immer schwarz.
    Im Frühjahr, kurz vor Ostern, kam ich eines Tages nach Hause, ohne jemanden anzutreffen. Meine Mutter hatte mir mein Essen in den Ofen geschoben, und die Nachricht, die sie mir auf dem Tisch hinterlassen hatte, besagte, dass sie den Nachmittag in Groß Ostensen verbringen werde. Mein Vater war mit meinen Brüdern auf dem Feld und würde nicht vor dem Abend zurückkehren.
    Ich atmete auf. Je mehr Zeit ich auf dem Gut verbrachte, desto enger schien es mir zu Hause zu werden. Die Gerüche, die aus unserer Küche ins ganze Haus drangen, waren mir verhasst, und ich konnte es nicht mehr ertragen, meinem Vater beim Essen zuzusehen. Es war scheußlich, wie laut er seine Suppe schlürfte; nach jedem Bissen Fleisch puhlte er sich zwischen den Zähnen herum. Meine Brüder schmatzten und sprachen ständig mit vollem Mund.
    Ich war also nur zu glücklich, sie nicht anzutreffen, und mich ganz allein auf mein Treffen mit Rutger vorbereiten zu können. Der Fahrer würde mich um vier Uhr abholen.
    Rutgers Heirat mit Anna Frick war für seine Familie ein einziger Skandal gewesen, und allein Fricks Geld hatte Bruno von Kamphoff und dessen Frau überzeugt. Anna war eine von uns gewesen, eine Dorfschönheit mit roten Wangen und ohne Manieren. Ich wusste, was passierte, wenn wir Mädchen uns mit Leuten wie den von Kamphoffs einließen. Und obwohl ich spürte, dass es Rutger ernst war, hatte ich bis jetzt seinem Drängen nicht nachgegeben. Mein Vater verfügte über keine Reichtümer wie die Fricks. Ich hatte meine junge Haut und schönes braunes Haar. Niemand hatte mich bisher berührt.
    Diesen Gedanken hing ich nach, während ich mich wusch und ein neues Kleid anzog, eines, das Rutger noch nicht dutzende Male gesehen hatte. Ich bürstete mir das Haar und verdrängte Gedanken an meine Freundin Linde. Wie viel besser wusste ich die Gelegenheit, die sich mir geboten hatte, zu nutzen. Es wäre Verschwendung gewesen, ihr eine solche Gelegenheit anzubieten. Und ohnehin war ihr Gesicht entstellt – sie hatte dem zukünftigen Erben des Großen Hauses noch weniger zu bieten als ich.
    Gegen drei hörte ich ein Auto vor unserem Haus, und verwundert sah ich, dass es wirklich der schwarze Mercedes der von Kamphoffs war. Der Chauffeur stieg aus und kam langsam auf unsere Haustür zu. Hatte er sich in der Zeit geirrt?
    Mit offenem Haar und ungeschminkt rannte ich die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Meine Überraschung war groß, als sich nicht, wie sonst üblich, der elegante junge Mann höflich verbeugte, sondern Alex Frick die schwarze Kappe abnahm und mich angrinste. »Anke?«, sagte er gemächlich. »Der Wagen steht bereit.«
    »Du…?« fragte ich. Ich konnte mir keinen Reim auf Alex’ Erscheinen machen. »Was soll das?« Ich wusste, dass Fricks Sohn wieder in Hemmersmoor war, aber er hatte sich bis dahin kaum im Dorf sehen lassen. Meine Eltern hatten seit dem Tod meines Bruders keinen Fuß mehr in Fricks Krug gesetzt, und sie hatten sich sogar geweigert, zur Beerdigung von Frau Frick zu gehen. Alex’ Strafe, sagten sie, war wegen Behördenbestechung so milde ausgefallen. Drei Jahre für einen Sohn. Was für eine Gerechtigkeit war das?
    »Ganz recht«, sagte Alex. »Ich bin der neue Chauffeur. Kann ich reinkommen?«
    »Der Chauffeur?«, fragte ich.
    »Oh, bist du nun schon eine von den Herrschaften?«
    »Du bist zu früh«, sagte ich und hörte selbst, wie dumm das klang. »Das ist nicht, was ich meinte. Du solltest nicht hier sein. Wenn meine Mutter zurückkommt …«
    »Nicht vor dem Abendessen …«
    »Das kannst du nicht wissen.«
    »Und dein Vater ist auf dem Feld. Du hast dich herausgeputzt.« Alex sah mich von oben bis unten an. Er konnte kaum achtzehn Jahre alt sein, aber er sah älter aus. Er war gewachsen und so füllig und so langsam wie ein älterer Mann. Er sah komisch aus in seiner Uniform und mit seinen buschigen Augenbrauen, die zusammengewachsen waren. Komisch und irgendwie niedlich, wie ein Zirkusbär. Er
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