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Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zu vergessen. Es wird alles anders werden, dachte er, wenn er nachts herumwanderte, von Zimmer zu Zimmer, über die Gänge, durch den Garten, wo jetzt der Herbst einzog und der Wind die Blätter von den Bäumen wehte. Alles anders. Dunja wird ihren Ingenieur heiraten und dann in Rußland verschwinden. Nie wird sie nach Berlin kommen, nie. Ich habe sie verloren, von der Stunde an, als ich Workuta verließ. Alles habe ich falsch gemacht, einfach alles. Man hätte mit Starobin verhandeln müssen, immer und immer wieder … mit der russischen Hartnäckigkeit, die Jahrhunderte besiegte. Auch Starobin hätte schließlich nachgegeben.
    O Dunja, Dunja … ich werde wahnsinnig … Und plötzlich war ein Brief da. Absender: Marko Godemann. Berlin-Karlshorst, Birkenstraße 15, bei Familie Puschke. Pjetkin öffnete den Brief nicht sofort. Er rannte in die Kantine, holte eine Flasche Kognak, trank vier Gläser und hatte dann erst die nötige Ruhe, das Kuvert aufzuschlitzen.
    Marko Godemann … Marko in Ost-Berlin. Gott im Himmel – sie haben es geschafft.
    Der Brief war vollkommen unverfänglich. Ein besorgter Vater schrieb:
    »Lieber Herr Doktor.
    Meine kleine Tochter Dunja hat in der letzten Zeit eine merkwürdige Krankheitserscheinung: Sie läuft des Nachts immer im Bett herum. Es sind die Nerven, sagen die Ärzte, verschreiben Pillen und Zäpfchen, aber nichts hat bisher geholfen. Ich habe gehört, daß Sie ein Fachmann auf dem Gebiete solcher Erscheinungen sind. Können Sie mir helfen? Bitte, geben Sie mir einen Rat. Herzlichen Dank, Herr Doktor. Ihr Marko Godemann, Birkenstraße 15.«
    Pjetkin drückte den Brief gegen sein Gesicht und blieb so eine Weile regungslos sitzen.
    Dunja in Berlin … ein paar Straßen weiter nur … und unter der trennenden Mauer gruben sie einen Tunnel … Pjetkin antwortete sofort.
    »Lieber Herr Godemann. Die Krankheit Ihrer Tochter ist heilbar. Ich kenne einen Kollegen, wir sind befreundet, er wird Ihnen helfen können. Er wohnt Dresdener Straße, das Haus gleich an der Mauer. Ich habe die Hausnummer vergessen, aber Sie können es nicht verfehlen. Ich wünsche Ihrer Tochter eine recht schnelle Besserung. Ihr Dr. Kramer.«
    »Sie sind da«, sagte Pjetkin schwach und bleich, als Heiner Stapelhorst fünf Tage später wieder nachfragte. »Mit Marko, ich erzählte Ihnen von ihm. Dieser Mensch ist ein Wunder Gottes, ein echtes Wunder. Dunja und Marko werden sich mit den Leuten in der Dresdener Straße schon in Verbindung gesetzt haben. Dunja in Berlin … ich kann es immer noch nicht fassen.«
    »Muß ein tolles Mädchen sein, Doktor. Gratuliere.« Stapelhorst holte eine Planzeichnung aus der Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus. »Hier graben wir jetzt. Heute nacht stoßen wir durch den Kellerboden. Wir liegen genau richtig … die Klopfzeichen sind direkt über uns. Morgen nacht kann es losgehen. Es werden insgesamt neununddreißig Personen rüberkommen …«
    »Neununddreißig? Fällt das nicht auf?«
    »Sie werden ab morgen früh um sechs einzeln in das Haus sickern. Ist dicke Luft, warten sie ab. Aber warum soll man etwas merken? Neununddreißig Personen, darunter Frauen und Kinder, im Laufe eines Tages auf einer Straße … das ist völlig unauffällig. Ich werde über unser kleines Funkgerät meine Freunde drüben von Ihrer Dunja und diesem Marko benachrichtigen. Spricht sie deutsch?«
    »Von der Schule her. Ein wenig.«
    »Aber das Übliche kann sie verstehen? Halt oder Ruhe oder solche Dinge?«
    »Sicherlich.«
    Stapelhorst faltete den Plan sorgfältig wieder zusammen. »Also, morgen nacht um zwei Uhr. Wir treffen uns am Oranienplatz.«
    »Morgen nacht –« Pjetkin nickte wie eine Puppe.
    Stapelhorst betrachtete ihn kritisch.
    »Ihre Nerven sind im Eimer, Doktor. Trauen Sie sich das zu? Wollen Sie mitkommen? Wir bringen Ihnen Dunja selbstverständlich auch hierher …«
    »Ich komme –«, sagte Pjetkin und straffte sich. »Welch eine Frage. Ich habe starke Nerven –«
    Morgen nacht.
    Es ist merkwürdig, ein dumpfes, zitterndes, elektrisch aufgeladenes Gefühl, wenn man vorher weiß, wann ein neues Leben beginnt oder das alte vernichtet wird. Plötzlich ist um einen das Vakuum der Einsamkeit. Man ist nichts mehr, ein imaginärer Geburtsvorgang. Erst die neue Stunde des Lebens füllt diese Leere auf …

F ÜNFZIGSTES K APITEL
    Der Tunnel gähnte im Keller des Hauses an der Mauer, schwarz, niedrig, ein Maul der Gefahr. Durch Erdhaufen und Schutt hatten sie sich hindurchgezwängt. Nun
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