Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heiß wie der Steppenwind

Heiß wie der Steppenwind

Titel: Heiß wie der Steppenwind
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
schloß die Augen, leer vor Entsetzen. Es war der 7. April 1945. Über Königsberg hing seit vierundzwanzig Stunden eine Glocke aus Feuer und Eisen. Nach monatelanger Belagerung waren die russischen Truppen zur Eroberung der Stadt angetreten … Königsberg brannte. Der Himmel war eine einzige schwarze Wolke, als plötzlich das Krachen erstarb und sich Stille über den Friedhof legte.
    Langsam, ganz langsam hob er den Kopf und blinzelte. Die erdbraunen Gestalten, die durch die Gräberreihen gehuscht waren, sammelten sich am Eingang des Friedhofes. An den rußschwarzen Dachsparren der zerborstenen Leichenhalle flatterten zwei Betttücher im Wind. Alte Männer und Frauen in zerrissenen Kleidern standen zusammen an der Mauer. Sowjetische Soldaten mit Maschinenpistolen bewachten sie. Vereinzelte Trupps durchkämmten die Grabreihen, vor allem drüben, wo die Grüfte der reichen Familien lagen, holten die Russen noch deutsche Soldaten heraus, armselige Gestalten, die sich zu den Toten verkrochen hatten. Nun wurden sie im Laufschritt über den Friedhof getrieben, mit hochgereckten Armen.
    Hans Kramer setzte sich auf die Erde und starrte auf den Stein, den er in seiner Not umklammert hatte. Es war ein Totenschädel, erdverkrustet, merkwürdig klein, wie von einem Kind. Er behielt ihn in den Händen und beobachtete deutsche Soldaten, die jetzt zur Leichenhalle getrieben wurden, sich dort an der Mauer niederhocken mußten. Er schrak erst auf, als hinter ihm eine Stimme erklang. Erschreckt fuhr er herum und drückte den Totenschädel an sich.
    »Wie alt bist du?« fragte der Mann. Er erschien riesengroß. Ein Russe, dachte er. Mein Gott, hilf mir doch! Er steht da und bewegt die Hände, sein Gesicht ist voll Dreck und Schweiß, und an der Stirn blutet er … jetzt wird er mich umbringen, alle haben es erzählt.
    Er umfaßte mit beiden Händen seinen Kopf und kroch in sich zusammen.
    »Sieben Jahre …«, sagte er und begann zu weinen. Der Russe sah sich um und setzte sich auf den Grabstein. Er trug hohe, weiche Stiefel, und auf den Schultern klebten breite Schulterstücke mit Sternen. Als er in die Tasche seiner Uniform griff, zog Hans Kramer die Knie an und steckte den umklammerten Kopf dazwischen. »Ich will nicht sterben …«, weinte er.
    »Warum hast du Angst?« fragte der Russe. Er sprach ein hartes, aber klares Deutsch. Seine Stimme war dunkel. Hans Kramer schob den Kopf aus den Knien hervor und schielte zu ihm hoch.
    »Du willst mich an die Wand werfen …«, sagte er zitternd.
    »Wer sagt, daß ich das will?«
    »Alle sagen es. Vater hat es in der Zeitung gelesen.«
    Der Russe zog die Hand aus der Tasche. Ein Stück schwarzes, glitschiges Brot glänzte in seiner Handfläche. Er hielt es dem Jungen hin und nickte ihm zu. »Willst du?«
    »Brot?«
    »Ja. Sowjetisches Brot. Mehr habe ich selbst nicht. Zum Teufel, wir hungern wie ihr. Hast du auch Hunger?«
    »Ja …«
    »Dann nimm es und iß.«
    »Und wenn es vergiftet ist …?«
    Der Russe sah den Jungen fast traurig an. Dann brach er etwas ab und steckte es in den Mund. Den Rest hielt er dem Kind hin. Hans Kramer nahm es mit beiden Händen und stopfte es sich in die Manteltasche. Der Russe beugte sich vor.
    »Immer noch mißtrauisch, moj wokoja?« (Mein Wölfchen)
    »Ich heb' es für meine Mutter auf …«
    »Ach so, du hast eine Mutter?« Der Russe setzte sich vor den Jungen auf einen anderen zerborstenen Grabstein und nahm ihm damit die Sicht zur Mauer der Leichenhalle. Dort hatten die Soldaten begonnen, die deutschen Gefangenen zu zählen. Die Zivilisten drängten sich zusammen. Innen die Frauen, außen, wie ein Ring, die Männer. Der letzte verzweifelte Widerstand, ein kreatürliches Beschützen. Es war kein schönes Bild, und der Russe verdeckte es mit seinem Körper vor dem Blick des Kindes.
    »Wo ist deine Mamuschka?« fragte er.
    »Sie wollte Milchpulver holen, bei Normoth in der Steinbergstraße. Und dann habt ihr geschossen und seid gekommen.«
    »Und dein Papuschka?«
    »Vater ist beim Volkssturm. Vor einer Woche marschierte er zum Haff.«
    Der Junge griff in die Manteltasche, brach sich ein Stückchen Brot ab und schob es verlegen in den Mund. Noch immer schluchzte er auf … dann durchzuckte es seinen schmächtigen Körper, und seine großen blauen Augen wurden plötzlich dunkel und sehr alt.
    »Geht zum Friedhof, hat Vater gesagt. Sucht euch eine Gruft aus … da seid ihr sicher. Und das haben wir gemacht.« Hans Kramer zeigte in die Gegend. »Dort drüben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher