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Heinrich Spoerl

Heinrich Spoerl

Titel: Heinrich Spoerl
Autoren: ADMIN JR.
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dazu. In ihrem kleinen Frauenhirn kreist nur der eine Gedanke: Was wird Christian dazu sagen?
    Daran hätte sie eher denken sollen. Jetzt sitzt der arme Kerl einsam zu Hause und wartet Stunde für Stunde und ängstigt sich zu Tode. Morgen wird sie ihm alles erklären, und er wird es auch einsehen. Damit erhebt sich riesengroß die Frage: Wie sag ich's meinem Manne?
    Sie kommt damit nicht zu Ende. Es ist zu schwer. Dafür steigt eine andere Frage auf, erst klein und bescheiden, aber dann schiebt sie sich nach vorn: Wie verschweig ich's meinem Manne? Auch hiermit wird sie nicht fertig. Sie ist müde und will schlafen. Sie drückt sich in die Ecke der Bank, zieht sich fröstelnd den Kragen ihres Sommerkleides um den Hals und wickelt die bloßen Arme in ihren Schal. Die Bank ist hart, der Rücken schmerzt, und der Kopf rutscht zur Seite. Es ist ein qualvolles Schwanken zwischen Halbschlaf und Wachsein.
    Der Wartesaal ist leer geworden. Sie ist das einzige Lebewesen. Nur noch eine Lampe brennt. Die Rangiergeräusche und Pfiffe in der Ferne ersterben. Das eintönige Pochen einer Uhr zerhackt die langsam rinnende Nachtzeit.
    ***
    Als der Kanzleivorsteher Kempenich gegen Morgen dämmernd zu sich kam, hatte er einen faden Geschmack auf der Zunge und einen perfiden Druck unter der Hirnschale. Das verfluchte Kegeln, dachte er. Aber selbst dieses kleine Denken tat ihm weh. Er ließ es bleiben und dämmerte weiter.
    Aber da waren merkwürdige ungewohnte Geräusche, die in sein Ohr drangen: Das hysterische Bimmeln der Straßenbahn, das arrogante Hupen der Autos, das Ausrufen der Milch- und Gemüsekarren in einer ihm fremden Tonart, und der ganze Lärm einer erwachenden Großstadt.
    Da entschloß sich Kempenich, wach zu werden.
    Zunächst stellte er fest, daß er keineswegs in seinem häuslichen Bette lag. Er lag überhaupt nicht, sondern kauerte in einer äußerst verzwickten Stellung zu Füßen eines großen, ihm durchaus unbekannten Sessels, von dem er offenbar im Schlafen abgerutscht war. Sein linkes Bein war taub, die Schultern taten weh, und im Munde hatte er noch eine naßkalte Zigarre. Seine Siebensachen aber – Handkoffer. Mantel, Reisedecke, Feldstecher, Schirm und Hutschachtel – standen wie Tugendwächter im Kreise um ihn herum. Das beruhigte ihn zunächst.
    Weniger beruhigend war seine weitere Umgebung. Sein Blick fiel auf ein Waschbecken, das ihm fremd war, und auf einen schmalen Kleiderschrank mit vergoldeten Leisten. Er sah zwei merkwürdig hohe Fenster mit erdbeerfarbenen Vorhängen, durch die fahl und bleiern der Morgen fiel, und neben der Tür stand zu lesen: Zimmermädchen einmal, Kellner zweimal, Hausdiener dreimal.
    Mühsam klaubte er seine Gedanken zusammen und kam langsam dahinter: Er war noch in Köln und hatte das Nachtleben studiert. Verworrene Bilder fuhren in seinem Kopf Karussell und schwammen durcheinander in einem Gemisch von Rotwein und Weißwein, Bier und Champagner, gemixten Drinks und spaßigen Likören. Der Schädel schmerzte. Offensichtlich hatte er seine sittengeschichtliche Studienfahrt mit besonderer Gründlichkeit betrieben. Aber seine Erinnerungen waren blaß und unklar und hörten an einem gewissen Punkte völlig auf. Er mußte feststellen, seine wissenschaftliche Expedition war in eine kapitale Bierreise ausgelaufen. Das wissenschaftliche Ergebnis war dürftig. Er war wohl etwas unter die Räder geraten, aber gottlob nur unter die alkoholischen. Im übrigen hatte er, wie er das von sich gar nicht anders erwartete, ein durchaus gutes Gewissen und reckte sich stolz in die Höhe.
    Da fällt sein Blick auf etwas, das ihn bis ins innerste Mark erschüttert. Der Atem bleibt ihm stehen, die Augen treten ihm vor den Kopf; er will etwas sagen, die Zunge verweigert den Dienst. Er ist auf einmal entsetzlich wach und nüchtern und weiß, daß es kein Gespenst ist, keine Sinnestäuschung eines überhitzten Gehirns, sondern nackte – oder dürftig bekleidete Wahrheit.
    Langsam löst sich der lähmende Schreck, und der Kanzleivorsteher Christian Kempenich beschließt die Flucht. Mit verhaltenem Atem schleicht er zu seinem Sessel zurück, nimmt Handkoffer, Reisedecke, Feldstecher, Mantel, Schirm und Hutschachtel und entschlüpft durch die Tür. Er wollte es ganz besonders leise tun, infolgedessen blieb er mit dem Riemen seines Feldstechers an der Klinke hängen, infolgedessen kollerte die Hutschachtel über den Boden, infolgedessen gab es ein nicht unbeträchtliches Geräusch. Kempenich rafft zwar
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