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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Autoren: Anna Reid
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    EINLEITUNG
     
    Dies ist die Geschichte der Belagerung Leningrads, der tödlichsten Blockade einer Stadt seit Menschengedenken. Leningrad liegt am östlichen Winkel der Ostsee, am Ende des schmalen Finnischen Meerbusens, der die Südküste Finnlands von der Küste Russlands trennt. Vor der Russischen Revolution war es die Hauptstadt des Russischen Reiches und hieß, nach seinem Gründer Zar Peter dem Großen, St. Petersburg. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus vor zwanzig Jahren erhielt es seinen früheren Namen zurück, doch für seine älteren Bewohner ist es immer noch Leningrad, weniger zu Ehren Lenins als im Gedenken an die rund 750000 Zivilisten, die in den fast neunhundert Tagen – von September 1941 bis Januar 1944 – der Belagerung durch das nationalsozialistische Deutschland verhungerten. Andere zeitgenössische Belagerungen – etwa jene von Madrid oder Sarajevo – dauerten länger, aber keine kostete auch nur ein Zehntel der Opfer. Rund fünfunddreißigmal mehr Zivilisten starben in Leningrad als im Londoner »Blitz«, viermal mehr als bei den Bombardierungen von Nagasaki und Hiroshima zusammen.
    Am 22. Juni 1941, dem Mittsommermorgen, an dem Deutschland die Sowjetunion angriff, wirkte Leningrad kaum anders als vor der Revolution. Eine Möwe, die über der vergoldeten Turmspitze der Admiralität kreiste, hätte unverändert das graue Wasser der Newa, gesäumt von Parks und Schlössern, unter sich gesehen. Im Westen, wo die Newa ins Meer mündet, hätte sie die Kräne der Marinedocks erblickt; im Norden die zickzackförmigen Bastionen der Peter-und-Paul-Festung sowie die gitterförmig angelegten Straßen der Wassiljewski-Insel; im Süden vier Wasserwege: die hübsche Moika, den klassisch-eleganten Gribojedow-Kanal, die breite, erhabene Fontanka und den alltäglichen Obwodny – dazu zwei prächtige Boulevards, den Ismailowski- und den Newski-Prospekt, die sich in perfekter Symmetrie am Warschauer und am Moskauer Bahnhof vorbei zu den Lagerhäusern und Fabrikschornsteinen der dahinterliegenden Industriebezirke erstreckten.
    Der Schein trog jedoch. Äußerlich hatte sich zwar kaum etwas verändert, doch innerlich war Leningrad zutiefst gewandelt und traumatisiert. Es ist üblich, die Geschichte der Blockade wie in einem Film als glücklich-traurig-glückliche Progression darzustellen: den Frieden eines Mittsommermorgens, zerstört durch die Nachricht vom Einmarsch; den Ruf zu den Waffen; den vor den Toren haltmachenden Feind; den Abstieg in Kälte und Hunger; die Erholung im Frühjahr; das Siegesfeuerwerk. Doch die Realität sah anders aus. Jeder über dreißig Jahre alte Leningrader hatte 1941 bereits drei Kriege durchgemacht (den Ersten Weltkrieg, den sich anschließenden Bürgerkrieg zwischen Bolschewiki und Weißen sowie den Winterkrieg mit Finnland von 1939/40), zudem zwei Hungersnöte (die erste im Bürgerkrieg, die zweite während der Kollektivierung in den frühen dreißiger Jahren, ausgelöst durch Stalins gewaltsame Enteignung der Bauern) und zwei bedeutende Wellen des politischen Terrors. Kaum ein Haushalt, besonders bei den ethnischen Minderheiten und der alten Mittelschicht, war von Tod, Gefängnis oder Verarmung verschont geblieben. Es war kein übertriebenes Pathos, wenn etwa die Dichterin Olga Berggolz, die Tochter eines jüdischen Arztes, erklärte, dass »wir die Zeit anhand der Abstände zwischen den Selbstmorden maßen«. 1 Die Belagerung, obwohl einzigartig, was die Zahl der Todesopfer anging, war weniger ein tragisches Zwischenspiel als ein dunkler Abschnitt unter vielen.
    Die Tragödie wurde von der gemeinsamen Hybris Hitlers und Stalins verursacht. Im August 1939 hatten sie die Welt in Erstaunen versetzt, indem sie die Ideologien beiseiteschoben und einen Nichtangriffspakt schlossen, um Polen untereinander aufzuteilen. Als Hitler Frankreich im folgenden Frühjahr attackierte, rührte Stalin keinen Finger, sondern lieferte seinem Verbündeten vielmehr Getreide, Metalle, Gummi und andere wichtige Bedarfsartikel. Aus Stalins Gesprächen mit seinem Politbüro geht zwar hervor, dass er früher oder später einen Krieg mit Deutschland erwartete, den konkreten Zeitpunkt des nationalsozialistischen Angriffs – mit dem Codenamen »Unternehmen Barbarossa« – empfand er dennoch als vernichtenden Schock. Die neue, durch Polen verlaufende, schlecht befestigte Grenze wurde in Windeseile überrannt, und innerhalb von Wochen sah sich die in Panik geratene Rote Armee gezwungen, die
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