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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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der«anderen»Seite, ungewohnt. – Vor der Kallroy-Villa stand ein Möbelwagen. Matthias sah Ellinor, wie sie Blattpflanzen aus dem Haus trug, ihr FIAT war schon aufgetankt, mit dem würde sie vor dem Möbelwagen herfahren. Er sah sie, aber sie sah ihn nicht, sie war ganz in Gedanken.
    Oben am Fenster stand die Tante in schwarzem Kleid, das Haar streng gescheitelt. Die Anwaltskosten hatten mit dem Triptychon«Jugend»beglichen werden können. Anita Fitschen stand neben ihr, alles saubermachen, wenn die da unten endlich verschwunden ist. Das war ja ein richtiger Saustall.

    «Sie zieht nach Bremen», sagte Marianne, die über alles genau informiert war. Die beiden Frauen hätten sich ziemlich in die Kladden gekriegt. – Marianne würde im nächsten Jahr konfirmiert werden und dann in die Stadt gehen,«in Stellung».

54

    I m März gab es noch einmal einen Nachtfrost. Die große Pfütze auf dem Schulhof fror zu. Matthias hielt sich an dem alten Birnbaum fest und schleuderte die Kinder mit einem Seil auf der Pfütze herum.
    Der Winter ist ein harter Mann,
kernfest und auf die Dauer,
    bald würde er sich«ohnmächtig in die Berge zurück… »ziehen. Erste Schneeglöckchen wurden Matthias schon auf den Tisch gestellt, es war alles in Butter.

    Im Frühjahr werde ich den Schulhof mit einer Fliederlaube versehen, dachte er, für die großen Mädchen, damit sie den Kleinen das Lesen beibringen können. Und zur Straße hin eine Hecke, und die Klos weißen. Und vielleicht ein Turngerüst tischlern lassen, aber das vielleicht lieber nicht, sonst fallen sie runter und brechen sich den Hals… Einen«Trünnelhügel»ließ er sich einfallen, eine Erdaufschüttung, von der sich die Kinder hinunterrollen lassen könnten. Und im Winter mit Schlitten fahren.

    Für Ende April sagte sich dann der Schulrat an, zu einer Tagung mit sämtlichen Junglehrern des Schulaufsichtskreises Kreuzthal-Süd, sechzehn an der Zahl. Er wollte ihnen mal was Feines zeigen, etwas, was sie sonst nicht zu sehen kriegten, an dem sie sich ein Beispiel nehmen könnten. Die tolle Stunde von damals ging ihm nicht aus dem Kopf, und außerdem war Klein-Wense nun ja wohl auch mal an der Reihe.

    Das kam aus heiterem Himmel, Matthias rutschte das Herz in die Hose.«Jetzt rutscht mir das Herz in die Hose», dachte er, und sofort fuhr er zur Seglerkameradschaft, um zu diskutieren, ob es schlimm ist, wenn man da versagt. Er lieh sich das Rundbuch, das die Junglehrer von Hand zu Hand gaben, mit schlimmen Einzelerfahrungen darin, die allerdings schon längst überholt waren, denn die betreffenden Schulräte, deren unangenehme Eigenarten darin zu lesen standen, waren alle schon pensioniert.
    Die Segler lachten dröhnend, als er ihnen seine Sorgen mitteilte, und sie sagten, es wär’ ja absolut egal, ob er die Stunde nun verhaut oder nicht, bis zur zweiten Prüfung ist es noch lange hin, und da kommen dann ja noch weitere Visitationen hinzu und die schriftliche Arbeit und so weiter und so fort. Und außerdem brauchten sie ja Lehrer, und da nähmen sie jeden Schrott, der ihnen angeboten wird.

    Seine fabelhaften Vorbereitungen römisch I, II, III würde er nicht verwenden, da hatte er auch seinen Stolz. Einstieg, Verknüpfung, Anwendung – er hatte zunächst die Idee, eine Stunde«im alten Stil»zu halten, ohne das ausdrücklich anzukündigen, einfach mal zu zeigen, daß das auch geht, im alten Stil eine Stunde zu halten, nach Strukturen, die sich fleißige Schulmänner ausgedacht haben, im vorigen Jahrhundert. – Er fuhr zum Kollegen Rennenfranz, und der hatte es noch parat, was ihm im Lehrerseminar eingebleut worden war, vor über vierzig Jahren. Bei Kaffee und Kuchen teilte er es dem jungen Freund mit, und er packte ihm auch Bücher ein, in denen alles ganz genau erläutert war. Er brauche sie nicht unbedingt zurück, sagte Rennenfranz im Hinblick auf seine Pensionierung, und wandte sich wieder dem Bildchen zu, das er grade in Arbeit hatte: ein Strauß Märzenbecher mit einem Brummer drauf.

    Matthias studierte also die alten Methodiken und die von Rennenfranz ein Leben lang vertretenen Herbarthschen Formalstufen, wenn auch in modifizierter Form:
    April, April, der weiß nicht, was er will…
    Mit diesem Thema liebäugelte er, obwohl er nicht so recht wußte, wie er es eigentlich anpacken sollte: Einstieg? Nicht so schwer, wenn es an dem Tag hagelt, danach die Sonne scheint und schließlich regnet? Aber wenn nicht? Das war der Haken. Von der Anschauung«aus der
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