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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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Abkürzung durchs Moor nahm: die sanften Matten und die Sonne, die durch die Wolken brach. Und doch kam’s ihm anders vor. Das lag wohl an der Sonne, die diesmal im Süden stand. Damals war es später Nachmittag gewesen. Die Beleuchtung war eine andere. Die beiden metallenen Futtersilos in Klein-Wense, die sonst signalartig herüberblinkten, waren jetzt nur zwei dunkle Striche. Sie würden wohl bald abgerissen werden.

    Als er wieder hineinging in den Mühlenraum – die Abdeckerei in Eistedt blies wieder mal eine Wolke gerösteter Brötchen über das Land – stand da das Phantom: die junge Meerfrau mit dem blonden Haar. Das Gesicht war von einer Narbe entstellt, die Augen hin und her hetzend. Es war die Tochter der Flüchtlingsleute. Die Mutter zeigte auf sie und flüsterte:«… tagelang vergewaltigt, immer einer nach dem andern… », und sie sagte das so leise, damit es die Tochter nicht hören sollte. Auf dem Hof hatte sie gestanden, als die Russen einrückten, mit ihren blonden Haaren, hatte grad die Hühner einfangen wollen und wegsperren… – Das war nun schon fünfzehn Jahre her, aber noch immer war sie nicht zu sich gekommen, saß stumm in ihrer Kammer oder irrte im Moor umher.
    Manchmal setze sie sich zu dem blinden Stuhlflechter in den Verschlag, sonst war nichts mit ihr anzufangen, nicht einmal Kartoffeln schälen konnte sie. »… tagelang vergewaltigt, und dann nach Osten verschleppt, Kühe treiben, und nach zwei Monaten zurückgekehrt, und seither ist nichts mehr mit ihr anzufangen…»Dies alles wurde Matthias mitgeteilt, und die junge Frau stand daneben, als ob sie taub sei.

    Dann wurde von den Beamten in Kreuzthal geredet, daß die das nicht anerkannt hätten: der seelische Defekt sei wohl eher schicksalsbedingt, hätten die gesagt, läge wohl irgendwie in der Familie, es handle sich also um höhere Gewalt, und eine extra Rente gäb’s dafür nicht, nach Paragraph sowieso.«Wenn jeder Mensch, der durchdreht, gleich eine Rente kriegt, wo kommen wir denn da hin?»hatte der Beamte gesagt. – Ob er mal die Akten holen soll?, fragte der Mann, der schon von Pontius zu Pilatus gelaufen war, zur Partei der Heimatvertriebenen und Entrechteten, sogar an den Bundespräsidenten geschrieben und vor Gericht laut geworden – ein Randalieren hatte gerade noch verhindert werden können. Das sieht er ein, sagte der Mann, daß man vor Gericht nicht laut werden darf, aber was soll man machen?
    Die junge, verwirrte Frau hieß Mathilde, und Matthias kam das merkwürdig vor, Matthias-Mathilde? Ist sie denn ein Teil von mir?, dachte er.
    Es wäre ihm ganz natürlich vorgekommen, wenn er sie mitgenommen hätte nach Klein-Wense in das Schulhaus. Aber was dann? Hätte er sie wie im Märchen in einen Stall sperren und den Finger vorzeigen lassen sollen? Herumgeistern. Sie würde herumgeistern, dachte er.

    Ihre Augen hetzten hin und her; und als Matthias daran dachte, daß jemand ihr die Kehle zudrücken müßte, damit das Gehetze aufhört, blieb ihr Blick einen Augenblick auf ihn gerichtet, nicht ruhend, eher prüfend, und dieser Blick ging ihm durch und durch.«Aber ich habe dir doch gar nichts getan?»dachte er.«Und ich will doch überhaupt nichts von dir?»Konnte sie denn Gedanken lesen?

    Er unterließ es, den Leutchen auszumalen, wie schön es wär’ wenn sie hier ein Cafe aufmachten oder eine Schenke, unten, der Keller, der biete sich doch direkt an, die Wände weißen und Max-und-Moritz-Bilder von Wilhelm Busch an die Wand hängen? Kaum einer würde doch vorüberfahren, ohne einzukehren. Und dann die Ausflügler alle! Die kämen dann mit Bussen…

    Matthias beendete die Besichtigung und fuhr mit seinem Fahrzeug davon (außer einem alten Zinkeimer war hier kein Altertum vorhanden, und er konnte ja nicht gut die ausgedienten Mahlsteine wegschleppen, die an der Mauer lehnten). Beim Wegfahren blickte er kurz in den Rückspiegel, ob die Leutchen vielleicht auf die Galerie treten und ihm nachsehen. Aber Türen und Fenster blieben geschlossen: ein paar Schieferplatten klapperten im Wind. Im letzten Augenblick sah er die junge Frau neben dem Stall stehen. Winkte sie ihm?

    «Niemand kennt sich aus», sagte Matthias, und er mußte an den Kollegen Rennenfranz denken, mit seinen methodischen Unterrichtsstrukturen: Einstieg, Verknüpfung, Anwendung, und wie das alles hieß. Ob der auch in Rußland Blumenstücke gemalt hatte? Und er sah ihn in einem russischen Dorf als Landser ein kleines Mädchen auf den Schoß
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