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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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die goldenen Blätter stiehlt, da sagte man statt«Jude»besser«Räuber»…
    «Was soll diese jüdische Hast?»Auch so was nicht sagen, um Gottes willen, auch davor hatte man im Seminar in letzter Minute noch gewarnt, oder womöglich:«Das geht hier ja zu wie in einer Judenschule…»Das auch nicht, eines solchen Spruches wegen hatte schon mancher Lehrer dran glauben müssen, strafversetzt oder überhaupt aus dem Dienst geflogen.

    Allmählich verlangsamte sich die Fahrt, sie kam schließlich ganz zum Stillstand. Matthias stieg ab und führte das Rad durch große gelbe Pfützen.
    Linker Hand breitete sich ein Moor aus, das«Glumm»genannt wurde. Grassoden schwammen auf dem schwarzen Wasser, winzige, wie für Kinder gemachte Birken standen hier und da. Es war ganz still, nur ein kollernder, glucksender Vogel ließ sich hören. – Vielleicht ist das eine Ralle, dachte Matthias, klingt so, als ob das eine Ralle wär’… Vielleicht würde es hier ja auch Sonnentau geben? Fliegenfressende Blumen also, streng unter Naturschutz. Eine unangenehme Vorstellung: Man wird gefragt, was das für eine Blume ist, und man weiß das dann nicht? Blumen, Vögel: Eigentlich hatte er von Natur keine Ahnung.

    Matthias lehnte das Rad an einen Baum: Dies war also ein Moor. Er tastete mit dem Fuß vor. Die Grasinsel würde vielleicht tragen, aber vielleicht auch nicht. Wieso sollte er es ausprobieren, ob’s trägt oder nicht, es gab ja festes Land genug hier. Eigenartig, daß man so was nicht einzäunte.
    Das Glumm. Ob es hier Fische gab? Wohl kaum. Hier war alles tot: höchstens Wasserflöhe… Oder Frösche.
    Und natürlich Mücken.
    Fische kannte Matthias auch nicht, aber so was würde man sich aneignen können, mit der Zeit.
    Moorleichen im Museum, in Glaskästen gelagert, voll klimatisiert unter indirektem Licht, lederig verknorrt, wegen Ehebruch hingerichtete Weiber oder den Göttern geopferte Greise, auf dem Kopf ein Käppchen, einen Topf Hirse dabei.

    Mit den Kindern würde man jedenfalls nicht ins Moor gehen, zur Mühle ja, aber doch nicht ins Moor; tausendmal gesagt: Geht da nicht so nah’ ran, eins stürzt hinein, die anderen versuchen es zu halten und stürzen hinterher, eins nach dem anderen versinkt, ein wahrer Todesreigen, ein einziges Gegluckse… Man faßt zu und wird auch hineingezogen, und versinkt in der ewigen Nacht… Und nach tausend Jahren legen sie das Moor trocken und entdecken die Tragödie, den erstickten Reigen, und die kleinen Kinderkörper werden herausgeholt, einer nach dem anderen, abgebeizt, gegen Schimmelbefall eingerieben und in einem klimatisierten Rundsaal ausgestellt, wie sie sich da bei der Hand halten, indirektes Licht. Ein Mann inmitten von Kindern, lederig verknorrt, den Mund aufgerissen, und die Mädchen noch mit Schleife im Haar.
    «Er gab sein Leben hin für seine Kinder», würde es heißen.

    Matthias hätte jetzt eigentlich weiterfahren können, aber er blieb sitzen und malte sich die Geschichte noch ein wenig aus. Er stellte sich alles recht lebhaft vor, so daß er schließlich in der Ferne sogar eine Gestalt zu erkennen meinte, eine Art Jungfrau mit langem blonden Haar, die ihm winkte! – eine Erinnerung an eine Spukgeschichte mochte das sein, die ihm einmal seine Mutter vorgelesen hatte…
    Daß dieser Ort auch mit Gegenwart zu tun hatte, war jedenfalls an Torfsoden zu sehen, die am Weg aufgestapelt lagen.

    Da sich nun nichts weiter ereignete, fuhr Matthias weiter den Weg entlang, der künstlich aufgeschüttet worden war, ein Damm also, er war mit Steinen, wie sie der Bauer vom Felde liest, befestigt. Jetzt fuhr Matthias an einem einzelnen Gehöft vorüber. Gänse kamen geschnattert, und ein angeketteter Schäferhund bellte heiser. Vor der Tür stand eine bucklige alte Frau.
    «Geht’s hier nach Klein-Wense?»rief er ihr zu, und die Frau zeigte es mit dem Krückstock: immer geradeaus.
    Matthias hatte der Frau nicht guten Tag gesagt, das war schlimm, er hatte damit dem Quantum Freundlichkeit, das sich hier seit Jahrhunderten angesammelt haben mochte, Abbruch getan. Dieser Fehler würde in Zukunft gegen jedermann durch forcierte Höflichkeiten wettzumachen sein.

    Unversehens und viel schneller als erwartet, war Matthias am Ziel. Er stand am Rand eines Gebüsches, das sich hier zum Wald verdichtete, und blickte auf ein kleines rundes Dorf hinunter. Es war Klein-Wense: Dächer hinter Bäumen, das Flüßchen Eische davor und ein Feld, das von einem Trecker aus mit Kunstdünger
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