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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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junge Frau von hinten sehen. Zwei alte Säcke hatte sie sich auf den durchlöcherten Stahlsitz gelegt, damit sie es bequemer hat.
    Matthias fuhr mit dem Mantel wedelnd die Hauptstraße entlang. Eine behagliche alte Straße war das, von Platanen gesäumt. Das mußte ein mutwilliger Charakter gewesen sein, der diese fremdartige Allee gepflanzt hatte.«Bad Kissingen», dachte Matthias:«hier werde ich auf und ab gehen, nachdenklich, wenn die Blätter treiben… »

    Es gab in diesem Dorf keine Kirche und keinen Dorfteich, dafür eine stillgelegte Molkerei und
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eine grüne Baracke mit Laderampe, auf der zwei Männer mit Sackkarre standen und hinter ihm herguckten.
    Matthias grüßte, und die beiden grüßten zurück.
    «… watt ick noch seggen wullt’…», sagte der eine und hielt inne. Mischfutter für Schweine und Palmkernmast für Bullenkälber.

    Hinter der Baracke erhob sich ein hoher blankglänzender Metallturm, ein Silo, der stand wohl noch nicht lange da, und neben der Baracke wurde ein Haus gebaut. Gerüstpfähle umstanden die Grundmauern, an ihnen war zu sehen, welchen Umfang der Neubau in etwa haben sollte. Die Mischmaschine räderte, und die Maurer klatschten Mörtel auf die weißen Kalksteine, setzten sie behutsam aufeinander und nahmen den appetitlich herausquellenden Mörtel mit der Kelle ab. Es würde ein stattliches Haus werden, das war schon jetzt zu sehen, mit einem Rundbogen über den Türen und hinten hinaus wohl sogar eine Terrasse?

    Neben der Baustelle lag ein Balkenhaufen, auf umgeknickten Fliederbüschen, das war das Fachwerk des Bauernhauses, das dem Neubau hatte weichen müssen. 1812 hatten durchziehende Franzosen sich Schinken und Würste aus dem Rauchfang geholt, von denen hatte wohl keiner seine letzte Ruhe auf dem Dorffriedhof gefunden.

    Ein weißes Dorfgasthaus, das Fachwerk blau gestrichen. Eine Bushaltestelle davor und vier mißhandelte Linden, in rostigen Eisengestellen. – Der Hof sauber gekehrt. In der Ecke ein Holzmeiler, daneben ausrangierte Kegelkugeln, die wohl zerhackt werden sollten.

    Unversehens stand Matthias am Ufer der Eische, die hier in einer Schleife um das Dorf herumfloß. Er schob sein Rad auf dem schmalen Fußweg das Flüßchen entlang, es floß durch Erlen verdüstert stumm und eilig dahin. Hier und da war ein Steg ins Wasser getrieben, zum Wäschewaschen oder für die Fischer; kleine, schwarz geteerte Bootsschuppen standen wie große Särge im Gebüsch, seitlich hingen Reusen zum Trocknen, die aus Weidenruten gebogenen Spreizreifen, wie große eingezogene Räder.

    Ein Fluß ums Dorf herum? Mit so was hatte Matthias nicht gerechnet. Im Sommer würde er sich ein Faltboot anschaffen und dann flußabwärts schippern, so weit, wie’s geht. Vermutlich floß die Eische in die Weser. Auf der Weser würde er sich treiben lassen, nach Bremen und darüber hinaus. Vielleicht ein Zelt kaufen, sich hineinlegen, den Kopf rausstrecken und auf einem Spirituskocher Erbswurstsuppe kochen.
    An ein Foto mußte er denken, Sommer 1943, die blonde Gisela im Paddelboot, eine Hakenkreuzraute auf dem BDM-Turnhemd. Sie grüßte mit einer Flasche Himbeerlimonade herüber, und das Paddel lag quer vor ihr auf dem Boot. Matthias hatte als«kleiner Bruder»hinten sitzen dürfen. Kriegshilfsdienst in einer Munitionsfabrik: Ein Jahr später hatte eine Bombe die Baracke getroffen, und sie war sofort tot gewesen.

    Ein Stück flußaufwärts, von der Eische umflossen, stand eine verwahrloste Villa mit Turm und lila Glasveranda, von Rhododendronwänden flankiert, zur Wiese aufgeschossenes Gras davor. An hohen Atelierfenstern war zu sehen, daß es sich hier um das Künstlerhaus handelte. Das dunkle Dach des Hauses war mit roten Pfannen geflickt, und in der Glasveranda fehlten einige Scheiben. Vor der Tür sah Matthias den kleinen FIAT stehen, der ihm schon am Bahnhof aufgefallen war. Kallroy – wo hatte er diesen Namen schon einmal gehört? Kein Allerweltsname, wahrhaftig nicht, und doch ein Name, den jeder Mensch zu kennen meint.
    Es war inzwischen fünf Uhr geworden. Während Matthias auf seinem Fahrrad den schmalen Fußpfad am Wasser entlangbalancierte, repetierte er das Wortfeld«Zeit». Das würde er mit den Kindern üben. Kommt Zeit, kommt Rat. Wie de Tied, so ännern sik de Lüd’.
    «Zu spät», diesen Aufsatz hatte er mal schreiben müssen, vor langer Zeit. Der alte Lehrer war zwischen den Bänken auf und ab gegangen und hatte gesagt:«Denkt daran,
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