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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt
Autoren: Walter Kempowski
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sämtliche ländlichen Motive für Heimatkalender schon abgegrast. Zäune mit den bekannten Schneemützchen, brave Ackerpferde, einen Hund, der den Kopf durch ein Loch in der Dielentür steckt…
    Do du dat dine
Gott deit dat sine!
    Was Matthias auffiel: eine in den Baum eingewachsene Zinkwanne, die war bestimmt in keinem Heimatkalender verewigt.

    Wie würde er mit den Leuten zurechtkommen, das bewegte Matthias, er würde es mit Dickschädeln zu tun kriegen, mit unbeweglichem Knorpelvolk, und mit Schülern dementsprechend. Im Landschulpraktikum waren sie brav gewesen, aber das war wohl davon gekommen, daß ihnen der alte Lehrer im Rücken saß.
    Vor den Kindern würde man auf der Hut sein müssen. Und im Konfliktfall: absondern, kaltstellen, nicht beachten. Und im übrigen mit freischaffendem Lernen operieren in offener Behaustheit.

    Etwas abseits, auf einer Anhöhe, lag ein großer Hof, von alten Eichen umgeben, der war größer als alle anderen und älter, der war wohl schon immer dagewesen.
    Jetzt eben wankte den Weg herab ein alter Mann, schwankte hin und her, fiel auf die Knie und griff in die Luft. Aus dem Hof kam eine Frau gelaufen, mit Schürze vor, die holte den Alten ein, der auf Knien weiterzurutschen suchte.
    Matthias konnte hören, wie die Frau mit ihm zankte und daß sie weinte. Sie half ihm auf und führte ihn zurück.
    Steck dich nicht dazwischen, dachte Matthias. Am besten gleich weiterfahren, hier kein Samariter sein. Dieses Geheimnis nicht lüften.

    Nun kam er am Friedhof vorüber. Auf dem Kriegerdenkmal waren unter einem kleinen Adler aus Zement in goldenen Lettern für den ersten Krieg sieben und für den zweiten achtzehn Namen verzeichnet. Eine dritte Tafel war noch frei. Die Reste eines Hünengrabes waren zerschlagen worden zur Ausgestaltung dieses Monuments.
    Neben dem Denkmal standen Jungen und Mädchen. Sie sahen zu, wie Männer ein Loch schaufelten. Die Jungen hatten schlaffe Säcke in der Hand: Löwenzahn suchen für die Kaninchen. Eines der Mädchen trug schiefgetretene Hausschuhe mit einem kleinen roten Wollbommel obenauf, die Bänder der Schürze auf dem Rücken gekreuzt. Im Arm hatte sie eine Katze. Sie machte einen Knicks vor dem neuen Lehrer, und die Jungen nahmen die Mütze ab.
    Hier wurde kein frisches Grab ausgehoben, es waren zwei französische Beamte, die, eine Zigarette im Mund, Kriegsgefangene exhumierten, junge Franzosen, die vor fünfzehn Jahren in Klein-Wense zu Tode gekommen waren.

    Vom Friedhof kamen zwei ältere Frauen geschlurft, Hüftleiden die eine, die andere einen Buckel, ganz in Schwarz, mit Harke und Gießkanne. Es interessierte auch sie, was die Leute hier machten, sie stützten den Kopf in die Hand und sahen zu, wie die Franzosen mit dem Spaten die vermoderten Reste der Särge entzweihieben. Damals auf der Nehrung hatte es keine Särge gegeben, da hatte man die Toten im Chausseegraben abgelegt.

    Ein Trecker tuckerte heran: Es war die junge Frau mit den schwarzen Zöpfen, die Matthias schon gesehen hatte. Sie hatte Dünger auf dem Feld ausgebracht, und nun wollte sie wissen, was es hier zu sehen gab, der Spitz sprang herunter und bellte die Männer an, was alle lustig fanden. – Der Motor wurde nicht abgestellt.

    Die Männer entnahmen der Grube zwei Schädel und ein paar Rippen und taten das Gebein in einen Sack. Sie hielten den Kindern einen der Schädel hin, aber die erschraken nicht, sie wichen nur ein wenig zurück. Dann machten sie eine Zigarettenpause und schaufelten die Grube wieder zu. Nun endlich würde in Lille eine Überführungszeremonie stattfinden können, mit Blaskapelle, weinenden Angehörigen und mit Veteranen, Schnurrbart aufgewichst, Medaillen an der Jacke. Ein Herr von der deutschen Kriegsgräberfürsorge würde anwesend sein und vielleicht auch einer von der deutschen Botschaft. Der Mann von der Botschaft würde in fließendem Französisch sein Bedauern ausdrücken über die Nazibarbarei und die Begleichung der Unkosten für diese Umbettung in Aussicht stellen, das war ja selbstverständlich.

    Die Franzosen klopften die Erde fest und stiegen ins Auto. Daß im hinteren Teil des Friedhofs noch ein weiterer Franzose lag, und zwar aus dem Ersten Weltkrieg, interessierte sie nicht, das war auf keiner Karte verzeichnet. – Womöglich gab es auf diesem Friedhof noch ein Grab von 70/71?

    Die Kinder verschwanden, die alten Frauen wackelten davon, und auch Matthias trat in die Pedale. Er wurde von dem Trecker überholt, und er konnte die
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