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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Straße, und die Eichen am Weg regten sich: Laub vom vorigen Jahr.
    Vielleicht hatte der Müller im Krieg von seiner Bodenluke aus die Bombardierung Bremens beobachtet: die roten Wolken, und darunter, über dem Horizont, der weiße Flammenstrich. Und bestimmt hatte er die Kolonnen der Engländer gesehen, wie sie sich heranschlängelten, Jeeps, Lastwagen und Panzer, und er hatte das Fenster geschlossen und war in den Keller gestiegen. Im Mittelalter hatten die Müller den Strick für den Galgen stiften müssen.

    Was fängt man mit Aussicht an? Auf diesem Aussichtspunkt fehlte eine Panoramatafel, auf der das, was es hier jetzt zu sehen gab oder auch nicht zu sehen gab, erklärt wurde, damit man es mit der Landkarte vergleichen könnte: Urstromtal oder Geestrücken und die Namen der Dörfer oder weiß der Himmel was. Eine Übersichtstafel, so wie es sie im Hochgebirge für Touristen gibt, leicht geneigt, wie das Pult auf einer Kanzel, mit zweisprachigen Erklärungen, mit Pfeilen ins Bild hinein und unter Glas.
    Was nützt einem die schönste Aussicht, wenn man nicht weiß, wie das heißt, was man da sieht?

    Mit den Schülern würde er einen Ausflug zu dieser Mühle machen, das war ihm klar, schon jetzt mal angucken, wo es sich rasten läßt. Mit den Großen dann ein Modell anfertigen von der Mühle, zum Aufklappen und Hineingucken, und mit den Kleinen Windräder aus Papier basteln und ihnen vorher Grimms Märchen vorlesen, vom großen und kleinen Klaus. Und Lieder singen: Es klappert die Mühle am rauschenden Bach… Und in der Sprachlehre: Der Wind, der Wind, das himmlische Kind… Der Wind bläst – pustet – heult – säuselt – winselt um das Haus herum.
    «Der Wind ist ein lustiger Geselle. Unsern Drachen wirft er hin und her. Erzähle, was er noch anstellt! Im Struwwelpeter steht auch eine feine Geschichte.»
    Windmühlen, Wassermühlen, Bockmühlen… Sammelmappen anlegen, und ein Segel konstruieren für das Fahrrad, dann kommt man unter Umständen ganz ohne zu treten vorwärts. Vielleicht gab es das schon?

    Keine schöne Müllerstochter winkte ihn herein zu frischem Trunk. Aus einem Bretterschuppen kam ein Hund gelaufen, sprang den Drahtzaun in die Höhe und kläffte. Das war der Kontemplation nicht förderlich. Matthias nahm also das Rad auf und fuhr links den Feldweg hinunter, das war die Abkürzung, von der der Mann am Kiosk gesprochen hatte. Nach aufgerösteten Brötchen roch es, und das war sonderbar.

    Das Menschengeschlecht, das hier lebte, stellte sich Matthias kraftvoll vor, blond mit blauen Augen, hinter dem Pflug einherschreitend, die Zügel um den Nacken gelegt – ein bißchen so, wie Bauern in der Nazizeit dargestellt wurden, in Fotobänden, die jetzt nicht mehr so hoch im Kurs standen: Mädchen mit Kranz um den Kopf…
    «Die Haut der nordischen Rasse ist rosig-hell und läßt das Blut durchschimmern, so daß sie besonders belebt, dabei meist etwas kühl oder frisch aussieht.»
    Es war ein eigenartiger Gedanke, daß Menschen hier schon seit Jahrhunderten lebten, in ihren Lebensgewohnheiten unverändert, traditionsbewußt. Nicht unstet wie in der weiten Welt da draußen, sondern«bodenständig»und treu.

    Auch an Inzucht mußte Matthias denken, er stellte sich einen Knaben mit Wasserkopf vor, sabbernde Dorfdeppen und unmäßig stotternde Schulkinder. Denen würde mit Geduld zu begegnen sein.

    Trotz der Pfützen auf dem Sandweg, kam er flott voran, denn es ging leicht bergab. Außerdem war er durch Gebüsch und Bäume links und rechts vor dem Wind geschützt, der jetzt auffrischte. Ab und zu mußte er allerdings anhalten und die Sprühtropfen von der Stirn wischen.«Wie schön wird es hier erst im Sommer sein», dachte er und freute sich darüber, daß er sich für Klein-Wense entschieden hatte und nicht für die Nordseeinsel Neuwerk, wo es nur sechs Gänse und vierundzwanzig Schweine gab und die Post nur einmal die Woche kam…
    Lustig ist das Zigeunerleben,
faria, faria, ho,
Braucht dem Kaiser kein’ Zins zu geben…
    Dieses Lied fiel ihm ein, und er sang es eine Weile laut in die Gegend, bis er merkte, daß er es ja eigentlich gar nicht mochte. Er mußte an ein Sommerlager denken, Anfang des Krieges, angebrannte Haferflockensuppe, und jenseits des Flusses BDM. -«Zigeuner»? Dieses Lied besser nicht singen lassen, wenn der Schulrat kommt. Das konnte einem falsch ausgelegt werden. Auch vor Chamisso war schon gewarnt worden: das Bäumchen, das andere Blätter hat gewollt, der Jude, der

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