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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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Graben von zwanzig Jahren. Was sie aufgrund welcher Überlegungen zugestehen würde und was nicht, lag außerhalb dessen, was ich mir vorstellen konnte.
    Innerhalb lag fast nichts mehr. Nur Tauben, ein Springbrunnen, Rasen, eine Mutter mit Kind. Und doch dachte ich beim Anblick dieses Bildes das erste Mal in diesen Tagen, dass ich nicht aus dieser Welt scheiden wollte. In welche andere Welt ich käme, war mir scheißegal. Sollte ich in den vergangenen fünfunddreißig Jahren 93 Prozent meiner besten Zeit aufgebraucht haben, bitte sehr, so wollte ich doch an den verbleibenden sieben festhalten und den weiteren Verlauf dieser Welt verfolgen. Warum, weiß ich nicht, aber das schien mir meine Pflicht zu sein. Irgendwann hatte ich angefangen, mein Leben zu verpfuschen, gewiss. Aber immer hatte es irgendwelche Gründe dafür gegeben, ich musste handeln, wie ich handelte, auch wenn niemand es verstehen konnte.
    Doch dieses verpfuschte Leben aufgeben, es wegwerfen wollte ich nicht. Ich hatte die Pflicht, es zu Ende zu leben. Andernfalls wäre ich mir selbst gegenüber nicht aufrichtig. Nein, mein Leben wegwerfen durfte ich nicht.
    Wenn mein Erlöschen bei niemandem Trauer erzeugte, wenn in niemandes Herzen eine Lücke blieb, wenn es so gut wie von niemand überhaupt bemerkt wurde, dann war das allein mein Problem. Ja, ich hatte viel verloren, viel zu viel. Außer mir selbst hatte ich, schien mir, kaum noch etwas zu verlieren. Doch der Nachglanz dessen, was ich verloren hatte, glühte weiter in mir, er war es, der mich mein Leben hatte weiterleben lassen.
    Nein, ich wollte nicht weg aus dieser Welt. Wenn ich die Augen schloss, spürte ich deutlich das Schwanken und Wanken meiner Seele. Keine Trauer, keine Einsamkeit, sondern mächtige Wellenbewegungen, die mein Dasein von Grund auf in Bewegung brachten. Eine Welle nach der anderen rollte heran. Ich lehnte mich auf der Bank zurück, stützte die Ellbogen auf und widerstand. Niemand kam mir zu Hilfe. Niemand konnte mich retten. Wie auch ich nie jemanden gerettet hatte.
    Ich hätte gerne laut geschluchzt, doch weinen durfte ich nicht. Für Tränen war ich schon zu alt, hatte ich schon zu viel durchgemacht. Es gibt eine Trauer, die man nicht beweinen kann. Eine Trauer, die man niemandem erklären kann und die niemand, selbst wenn man sie erklären könnte, begreifen kann. Diese Trauer lässt sich in nichts transformieren, sie legt sich leise auf die Seele, wie Schnee in einer windstillen Nacht.
    In jüngeren Jahren habe ich versucht, diese Trauer in Worte zu fassen. Doch wie viele Worte ich auch fand, ich konnte mich niemandem mitteilen, nicht einmal mir selbst, sodass ich es am Ende aufgab. Ich schloss meine Sprache, und ich schloss mein Herz. Tiefe Trauer findet nicht einmal mehr Tränen.
    Ich wollte eine Zigarette rauchen, doch die Schachtel war weg. In meiner Tasche steckte nur das Streichholzbriefchen. Es enthielt nur noch drei Hölzchen. Ich zündete eins nach dem anderen an und warf sie auf den Boden.
    Als ich erneut die Augen schloss, waren die Wellen weg. Nur sachtes Schweigen schwebte wie Staub in meinem Kopf. Lange fixierte ich diesen Staub. Er hob sich nicht, noch senkte er sich. Er schwebte nur. Ich spitzte die Lippen und atmete ein, doch der Staub rührte sich nicht. Kein Sturm der Welt würde ihn aufwirbeln können.
    Dann dachte ich an die Bibliothekarin, von der ich mich gerade verabschiedet hatte. An ihr Samtkleid, ihre Strümpfe und ihren Slip, die auf dem Teppich gelegen hatten. Ob sie immer noch dort lagen, so, als wären sie die Bibliothekarin selbst? War ich ihr gegenüber aufrichtig gewesen? Nein, wohl kaum. Doch wer verlangte schon Aufrichtigkeit? Niemand! Niemand außer mir! Welchen Sinn aber hatte ein Leben ohne Aufrichtigkeit? Ich mochte sie genauso, wie ich ihre Kleider mochte, die sie auf den Boden geworfen hatte. War das eine Form meiner Aufrichtigkeit?
    Aufrichtigkeit ist einer der Begriffe, die nur in einer sehr begrenzten Welt verstanden werden. Und doch erstreckt er sich auf alles. Auf Schnecken, auf Eisenwarenhandlungen, auf die Ehe. Niemand braucht sie, doch für mich ist sie das Einzige, was ich zu geben habe. In diesem Sinne ähnelt die Aufrichtigkeit der Liebe. Was man gibt, stimmt nicht mit dem überein, was der andere braucht. Gerade deshalb ist vieles an mir vorübergegangen, ist vieles in mir vorübergegangen.
    Womöglich sollte ich mein Leben bereuen. Auch das wäre eine Form von Aufrichtigkeit. Doch ich habe nichts zu bereuen. Wenn es
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