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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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interessiert mich nicht die Bohne«, sagt der Schatten. »Ich weiß es nämlich längst. Die ganze Zeit schon. Du selbst hast die Stadt erschaffen. Du hast das alles erfunden. Die Mauer, den Fluss, den Wald, die Bibliothek, das Tor, den Winter – alles, von A bis Z. Auch den See und den Schnee. – Wenn es das ist, was du meinst, das weiß ich längst.«
    »Ja, und warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
    »Dann hättest du dich doch von vorneherein entschlossen hierzubleiben, oder etwa nicht!? Ich wollte aber unbedingt, dass du hier rauskommst! Die Welt, in der du leben solltest, ist da, da draußen!« Der Schatten lässt sich in den Schnee fallen und wirft den Kopf heftig hin und her. »Aber jetzt, wo du alles entdeckt hast, hörst du sowieso nicht mehr auf mich, stimmt’s?«
    »Ich habe Verantwortung zu übernehmen!«, sage ich. »Ich kann doch die Menschen und die Welt, die ich mir selbst ausgedacht habe, nicht einfach im Stich lassen und gehen, nur weil es mir gerade so passt! Ich weiß, dass das dir gegenüber nicht fair ist, wirklich, und es fällt mir schwer, mich von dir zu trennen. Aber ich muss Verantwortung übernehmen für das, was ich getan habe. Das hier ist meine Welt. Die Mauer schließt mich selbst ein, der Fluss fließt durch mich hindurch und der Rauch, der Rauch steigt auf, wenn mein eigenes Fleisch brennt.«
    Der Schatten steht auf und starrt auf den stillen See. Wie er so dasteht, reglos im Schnee, habe ich den Eindruck, dass er an Tiefe verliert und seine eigentliche Gestalt zurückbekommt, flach und zweidimensional. Lange stehen wir beide schweigend da. Nur unser weißer Atem steigt auf und verflüchtigt sich.
    »Ich weiß, dass ich dich nicht mehr davon abbringen kann«, sagt der Schatten. »Aber das Leben im Wald ist viel härter, als du dir vorstellst. Im Wald ist alles, wirklich alles anders als in der Stadt. Du musst hart arbeiten, nur um am Leben zu bleiben, und die Winter sind lang und streng. Wenn du einmal in den Wald gehst, kannst du nie mehr zurück. Du musst für immer und ewig dort bleiben!«
    »Darüber habe ich auch lange nachgedacht.«
    »Aber es hat nichts geändert an deinem Entschluss, oder?«
    »Nein«, sage ich. »Ich werde dich nie vergessen. Im Wald werde ich mich schon nach und nach an die alte Welt erinnern. Es wird unzählige Dinge geben, an die ich mich werde erinnern müssen. An Menschen, an Orte, an Licht, an Lieder.«
    Der Schatten faltet die Hände vor dem Bauch, knetet sie und zieht sie wieder auseinander, immer wieder. Die Schneeflocken, die auf ihn herabfallen, verleihen seiner Gestalt seltsame Schattierungen, die sich langsam auszudehnen und zusammenzuziehen scheinen. Er hält den Kopf leicht zur Seite geneigt, als müsse er dem Reiben und Kneten seiner Hände lauschen.
    »Ich muss langsam gehen«, sagt er. »Ist schon ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass man sich nie mehr wieder sehen wird. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir fallen einfach keine passenden Abschiedsworte ein.«
    Ich nehme noch einmal die Mütze vom Kopf, klopfe den Schnee ab und setze sie wieder auf.
    »Ich wünsche dir, dass du glücklich wirst«, sagt der Schatten. »Ich habe dich sehr gern gehabt. Auch wenn man mal davon absieht, dass ich dein Schatten war.«
    »Danke«, sage ich.
    Ich starre noch lange auf die Stelle, wo der See meinen Schatten verschlungen hat. Auf dem Wasser ist nicht einmal mehr ein Ring zu sehen. Es ist blau und still wie die Augen der Tiere. Ich habe meinen Schatten verloren – ein Gefühl, als wäre ich ganz allein an einem entlegenen Flecken im Universum zurückgelassen worden. Ich kann jetzt nirgendwo mehr hin und zu nichts mehr zurück. Hier ist das Ende der Welt, und von hier führt kein Weg mehr irgendwohin. Hier tut die Welt ihren letzten Atemzug und steht still.
    Ich wende dem See den Rücken zu und mache mich durch den Schnee auf den Weg, Richtung Westhügel. Hinter dem Westhügel liegt die Stadt, fließt der Fluss, ist die Bibliothek, wo sie und die Konzertina auf mich warten.
    Im Schneetreiben sehe ich einen weißen Vogel Richtung Süden davonfliegen. Er überwindet die Mauer und wird vom weißen Himmel verschluckt. Danach bin ich mit dem Knirschen meiner Schritte im Schnee allein.
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