Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
1  HARD-BOILED WONDERLAND
DER AUFZUG, GERÄUSCHLOSIGKEIT, LEIBESFÜLLE
    Der Aufzug fuhr ungemein träge aufwärts. Jedenfalls vermutete ich, dass er sich aufwärts bewegte, genau wusste ich es nicht. Er fuhr so langsam, dass ich mein Richtungsgefühl verlor. Möglicherweise war es auch abwärts gegangen, oder er hatte sich überhaupt nicht bewegt. Den Zustand des Davor und des Danach im Kopf, entschied ich, dass es aufwärts gegangen sein musste. Das war alles. Eine bloße Vermutung, die jeder Grundlage entbehrte. Möglicherweise war er auch zwölf Stockwerke auf- und drei abwärts gefahren oder hatte einmal die Erde umrundet. Ich wusste es nicht.
    Der Aufzug unterschied sich in allen nur denkbaren Punkten von dem in meinem Mietshaus, einem billigen Fahrstuhl von der Schlichtheit eines weiterentwickelten Flaschenzuges. Er unterschied sich so sehr, dass man kaum glauben mochte, dass es sich hier um eine zum selben Zweck gebaute, den gleichen Mechanismus besitzende und denselben Namen tragende maschinelle Vorrichtung handelte. Die beiden Fahrstühle waren so weit voneinander entfernt, wie man sich überhaupt nur vorstellen kann.
    Punkt Nr. 1 betraf die Geräumigkeit. Der Aufzug, in dem ich mich befand, hatte etwa die Größe eines gemütlichen Büros. Wenn man einen Schreibtisch hineinstellte, einen Spind, einen Schrank und dazu eine Kochnische installierte, bliebe immer noch Platz. Drei Kamele und eine mittelgroße Palme hätten natürlich auch hineingepasst. Punkt Nr. 2 betraf die Sauberkeit. Der Aufzug war sauber wie ein nagelneuer Sarg. Die Wände und die Decke bestanden aus makellos glänzendem Edelstahl, der Boden war mit einem langflorigen, moosgrünen Teppich ausgelegt. Punkt Nr. 3: Es war erschreckend still. Als ich eingestiegen war, glitt lautlos – im wahrsten Sinne des Wortes: ohne jeden Laut – die Tür zu, und danach war nicht mehr das geringste Geräusch zu hören, sodass ich nicht sagen konnte, ob der Aufzug nun stillstand oder ob er sich bewegte. Tiefe Flüsse rauschen nicht.
    Zudem fehlte der größte Teil jener Armaturen, die gemeinhin zur Grundausstattung eines Aufzuges gehören. Zunächst einmal fehlte das Paneel mit den diversen Knöpfen und Schaltern. Es gab weder Knöpfe für die einzelnen Etagen noch für die Schließfunktion der Tür noch eine Notstoppvorrichtung. Überhaupt alles fehlte. Ich kam mir reichlich hilflos vor. Und nicht nur die Schalter: Die Etagenleuchtanzeige fehlte, es fehlten die Hinweise zur Benutzung und zur zugelassenen Personenzahl, sogar das Metallschildchen mit dem Namen des Herstellers war nirgends zu entdecken. Unklar war auch, wo sich der Notausstieg befand. Ein regelrechter Sarg, ohne Zweifel. Eine baupolizeiliche Zulassung könnte dieser Aufzug nie und nimmer bekommen. Ein Aufzug hat die Merkmale eines Aufzugs zu tragen.
    Während ich die vier Edelstahlwände taxierte, die so gar keinen Angriffspunkt boten, fielen mir die Bravourstücke Houdinis ein, die ich als Kind in einem Film gesehen hatte. Er ließ sich mehrfach mit Ketten und Stricken fesseln, in einen großen Koffer stecken, um den wiederum schwere Ketten gewickelt wurden, und mitsamt Koffer die Niagarafälle hinabstoßen oder in der Arktis unter Eis begraben. Nachdem ich einmal tief durchgeatmet haue, verglich ich kühl meine Lage mit der Houdinis. Für mich sprach, dass ich nicht gefesselt war, gegen mich, dass ich den Trick nicht kannte.
    Nein, genau genommen kannte ich nicht nur nicht den Trick: Ich wusste ja nicht einmal, ob der Aufzug sich bewegte oder ob er stand. Ich räusperte mich. Das Räuspern klang allerdings irgendwie seltsam – nicht wie ein Räuspern. Nur ein merkwürdig dumpfes Klatschen war zu hören, wie von weichem Lehm, der an eine glatte Betonwand geworfen wird. Das sollte mein Räuspern gewesen sein? Vorsichtshalber räusperte ich mich noch einmal, aber das Ergebnis blieb sich gleich. Resigniert stellte ich das Räuspern ein.
    Ziemlich lange stand ich einfach nur still da. Die Tür ging ewig nicht auf. Der Aufzug und ich verharrten ruhig wie ein Stillleben mit dem Titel »Mann im Aufzug«. Allmählich wurde ich unsicher.
    Vielleicht war die Mechanik defekt, vielleicht hatte auch der Aufzugführer – vorausgesetzt natürlich, dass irgendwo jemand dieses Amtes existierte – einfach vergessen, dass ich mich in dem Kasten befand. Hin und wieder kommt es schon mal vor, dass jemand vergisst, dass ich existiere. Aber was auch der Fall sein mochte, letztendlich war ich in dieser Zelle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher