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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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mächtigen Eisenbeschlägen versehen und sieht schwer und fest aus. Es ist ungefähr vier bis fünf Meter hoch, und damit man nicht hinüberklettern kann, ist es oben wie ein Nadelkissen mit scharfen, spitzen Nägeln gespickt. Der Wächter zieht dieses wuchtige Tor mühelos auf und treibt die versammelten Tiere hinaus. Das Tor hat zwei Flügel, aber der Wächter zieht immer nur einen auf.
    Der linke Flügel bleibt gewöhnlich fest verschlossen. Sobald alle Tiere das Tor passiert haben, schließt der Wächter es und schiebt den Riegel vor.
    Soweit ich weiß, ist das Westtor der einzige Ein- und Ausgang der Stadt. Sie ist von einer sieben bis acht Meter hohen, gewaltigen Mauer umschlossen, die nur Vögel überwinden können.
    Bei Anbruch des Morgens öffnet der Wächter das Tor wieder, bläst ins Horn und lässt die Tiere ein. Befinden sich alle innerhalb der Stadtmauern, schließt er, wie gehabt, das Tor und schiebt den Riegel vor.
    »Eigentlich nicht nötig, den Riegel vorzuschieben«, erklärt mir der Wächter. »Außer mir könnte sowieso niemand das schwere Tor aufziehen. Auch mehrere zusammen nicht. Aber was soll man machen, Vorschrift ist Vorschrift.« Und damit zieht er sich die Wollmütze bis kurz über die Augenbrauen und schweigt.
    Der Wächter ist der gewaltigste Mann, den ich je gesehen habe. Er wirkt fleischig, jeden Moment, bei der kleinsten Bewegung seiner Muskeln, scheinen Hemd und Jacke aufplatzen zu wollen. Aber mitunter schließt er die Augen und versinkt in dieses gewaltige Schweigen. Ich weiß nicht, ob es nur so eine Art Melancholie ist, die ihn befällt, oder ob seine inneren Körperfunktionen lediglich durch irgendeinen Prozess von der Außenwelt abgeschnitten werden. Wie auch immer, wenn das Schweigen von ihm Besitz ergriffen hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis er wieder zu Bewusstsein kommt. Der Wächter schlägt dann langsam die Augen auf, sieht mich lange mit trägem Blick an und reibt dabei die Hände aneinander, als suche er sich angestrengt den Grund für mein Dasein zu erklären.
    »Warum treiben Sie abends die Tiere zusammen und aus der Stadt hinaus, nur um sie am nächsten Morgen wieder hereinzulassen?«, frage ich ihn, sobald er wieder bei Bewusstsein ist.
    Der Wächter starrt mich eine Weile völlig ausdruckslos an. »Weil es Vorschrift ist«, antwortet er. »Deshalb. Genauso wie die Sonne, die im Osten auf- und im Westen untergeht.«

    Abgesehen vom Öffnen und Schließen des Tores scheint er den Rest der Zeit beinahe ausschließlich auf die Pflege seiner Werkzeuge zu verwenden. In der Wachhütte liegen sie in allen möglichen Formen und Größen: Äxte, kleine Handbeile, Messer, und wann immer er Zeit hat, schärft er sie mit größter Sorgfalt am Schleifstein. Die geschliffenen Schneiden blitzen eisig weiß und gefährlich. Sie scheinen das Licht nicht zu reflektieren, vielmehr ist mir, als besäßen sie selbst irgendeine rätselhafte Lichtquelle.
    Sehe ich mir die Reihe von Werkzeugen an, macht sich in den Mundwinkeln des Wächters immer ein zufriedenes Lächeln breit. Aufmerksam verfolgt mich sein Blick.
    »Pass auf, die schneiden sofort, schon bei der kleinsten Berührung!« Der Wächter zeigt mit seinen knorrigen Fingern auf die Messer. »Das ist was anderes als die Massenware dieser Stümper, die’s überall gibt! Jede einzelne Klinge habe ich selbst geschmiedet. Das ist ordentliches Handwerk, ich war nämlich früher Schmied. 1 a gepflegt, liegen hervorragend in der Hand. Gar nicht einfach, einen Griff zu wählen, der genau zum Gewicht der Klinge passt. Nimm ruhig mal eins in die Hand, egal welches, aber pass auf, komm nicht an die Schneide!«
    Aus der Reihe Werkzeuge auf dem Tisch suche ich mir das kleinste Messer aus und nehme es in die Hand. Tatsächlich, es reagiert so scharf wie ein abgerichteter Jagdhund und zerschneidet mit trockenem Zischen die Luft. Der Wächter kann wirklich stolz auf sich sein.
    »Die Griffe mache ich auch selbst. Ich schnitze sie aus zehn Jahre alter Esche. Über das beste Material für die Griffe kann man geteilter Meinung sein, ich jedenfalls bevorzuge zehn Jahre alte Esche. Nicht jünger und nicht älter, mit zehn Jahren hat sie genau die richtige Stärke, Feuchtigkeit und Spannkraft. Gute Esche wächst im Ostwald.«
    »Wozu brauchen Sie all die Messer?«
    »Ganz verschieden«, sagt der Wächter. »Im Winter ständig. Du wirst es sehen, wenn der Winter kommt. Der Winter dauert hier lang.«

    Außerhalb des Tores haben
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