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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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vereinzelt auf, wie ein paar zufällig und zur Unzeit sprießende Pflänzchen, doch bald wurden daraus unzählige Fühler, die das kurze Fell durchsetzten, um schließlich alles in leuchtendes Gold zu hüllen. Der ganze Prozess dauerte nicht länger als eine Woche. Die Verwandlung begann fast gleichzeitig bei allen Tieren und endete fast gleichzeitig. Nach einer Woche hatten alle ohne Ausnahme ein vollkommen goldenes Vlies. Und als am Morgen danach die Sonne aufging und die Welt in frisches Gold tauchte, hatte der Herbst Einzug gehalten.
    Nur das eine lange Horn, das ihnen mitten aus der Stirn wuchs, war und blieb von edlem Weiß. Es sah weniger wie ein Horn, eher wie ein Stück gebrochener Knochen aus, das die Haut durchstoßen hatte und so festgewachsen war. Einzig und allein das Weiß des Horns und das Blau ihrer Augen hatte sich nicht in vollkommenes Gold verwandelt. Die Tiere warfen den Kopf ein paar Mal hoch und stießen ihr Horn in den hohen Herbsthimmel, als wollten sie ihr neues Gewand ein wenig testen. Dann tauchten sie die Läufe in das kühler gewordene Flusswasser und reckten die Hälse nach den roten Herbstbeeren.

    Als die Abenddämmerung die Silhouette der Stadt blau zu färben beginnt, steige ich auf einen Hochsitz am Westwall, um zu sehen, wie der Torwächter das Hörn bläst und das Vieh zusammentreibt. Das Horn tönt einmal lang und dreimal kurz. So lautet die Vorschrift. Immer, wenn das Horn erklingt, schließe ich die Augen und lasse mich von dem weichen Ton durchdringen. Der Klang des Horns unterscheidet sich von allen anderen Klängen. Wie ein durchsichtiger, bläulich schimmernder Fisch gleitet er durch die in Dunkelheit versinkenden Straßen, legt sich über Kopfsteinpflaster, Gemäuer und die Mäuerchen am Weg entlang des Flusses. Als schlängele er sich durch eine in die Atmosphäre eingeschlossene, unsichtbare Zeitschicht, breitet sich der Ton leise bis in den letzten Winkel der Stadt aus.
    Sobald das Signal ertönt, heben die Einhörner in uralter Erinnerung den Kopf. Mehr als tausend Tiere nehmen gleichzeitig ein und dieselbe Haltung an und wenden den Kopf in die Richtung, aus der das Horn ertönt. Eines hält inne, träge seine Goldregenblätter zu kauen, ein anderes hört auf, mit dem Huf das Kopfsteinpflaster, auf dem es liegt, zu beklopfen, wieder ein anderes wacht aus seinem Nachmittagsschlaf im letzten sonnigen Fleckchen auf – und alle heben den Kopf.
    Alle stehen still in diesem Augenblick. Allein ihr goldenes Vlies bewegt sich leise im Abendwind. Keine Ahnung, an was sie jetzt denken oder was sie da anstarren. Sie drehen den Kopf im selben Winkel in die eine Richtung, und während sie so in die Luft starren, regen sie sich keinen Deut. Dann spitzen sie die Ohren und lauschen dem Klang des Horns. Und schließlich, wenn der letzte Nachklang in der blassen Abenddämmerung verhallt ist, stehen sie auf und setzen sich alle in dieselbe Richtung in Bewegung, als wäre ihnen gerade etwas eingefallen. Der kurze Bann ist gebrochen, und in der Stadt hallt es von Hufgetrommel. Ich stelle mir dabei immer unzählige aus dem Untergrund hervorquellende, winzige Bläschen vor. Dieser Schaum bedeckt die Straßen, kriecht die Häuserwände hinauf und begräbt schließlich sogar den Uhrturm unter sich.
    Doch das ist bloß eine abendliche Sinnestäuschung. Sobald ich die Augen öffne, ist der Schaum augenblicklich verschwunden. Es ist bloß das Trommeln der Hufe, und die Stadt sieht aus wie immer. Der Zug der Tiere zieht sich wie ein Fluss über das Pflaster, durch die gewundenen Straßen. Ohne Führung, ohne Leittier. Mit gesenktem Haupt und wankenden Schultern trotten sie einfach ihren verschwiegenen Flusslauf entlang. Sie wirken wie fest verbunden durch enge Stricke der Erinnerung, die ohne jeden Zweifel vorhanden sind, auch wenn man sie den einzelnen Tieren nicht direkt ansehen kann.
    Sie kommen von Norden, überqueren die Alte Brücke, treffen ihresgleichen, die von den südlichen Flussufern nach Osten gezogen sind, laufen am Kanal entlang über das Fabrikgelände, weiter nach Süden durch die Unterführung an der Gießerei und passieren den Fuß des Westhügels, an dessen Hängen die alten und ganz jungen Tiere, die sich nicht weit vom Tor wegbewegen können, auf die Herde warten. Dort drehen sie dann nordwärts, überqueren die Westbrücke und erreichen schließlich das Tor.
    Sobald die ersten Tiere dort ankommen, öffnet der Wächter das Tor. Zur Verstärkung ist es kreuz und quer mit
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