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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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übereinstimmte, wäre das Problem erledigt. Einen Fehler macht jeder mal. Ich war in einer besonderen Lage nervös geworden und hatte mich außerdem, zugegeben, eine Kleinigkeit überschätzt. Das hatte meinen dilettantischen Fehler verursacht. Auf alle Fälle die korrekte Zahl bestimmen – das sollte mich retten. Bevor es jedoch zur Rettung kam, öffnete sich die Tür des Aufzuges. Ohne jedes Vorzeichen glitt sie völlig geräuschlos nach beiden Seiten weg.
    Zuerst erfasste ich gar nicht richtig, dass die Tür aufging, weil ich mich auf das Kleingeld in den Hosentaschen konzentriert hatte. Das heißt, um es etwas genauer auszudrücken: Ich hatte zwar optisch wahrgenommen, dass sie sich öffnete, war aber eine Zeit lang nicht imstande zu begreifen, was das konkret bedeutete. Natürlich bedeutete es die Wiederherstellung des bis dahin durch die Tür unterbrochenen Kontinuums zweier Räume. Und es bedeutete gleichzeitig, dass der Aufzug, in dem ich mich befand, an seinem Ziel angelangt war.
    Ich stellte das Fingerspiel in den Taschen ein und blickte nach draußen. Draußen lag ein Korridor, und auf dem Korridor stand eine Frau. Sie war dick und jung und trug ein rosafarbenes Kostüm und rosafarbene Stöckelschuhe. Das Kostüm war gut geschnitten und aus glattem Stoff, und ihr Gesicht war etwa ebenso glatt. Sie sah mich eine Weile an, wie um sich zu vergewissern, und nickte mir dann zu. Das war offenbar das Signal: ›Bitte sehr‹. Ich entsagte der Berechnung des Kleingeldes, zog die Hände aus den Hosentaschen und stieg aus. Sobald ich draußen war, schloss sich hinter mir der Aufzug, als hätte er darauf gewartet.
    Auf dem Korridor schaute ich mich einmal gründlich um, entdeckte aber nichts, was meine Lage hätte erhellen können. Klar war mir, dass es sich um einen Korridor innerhalb eines Gebäudes handeln musste, aber das wäre auch jedem Grundschüler klar gewesen.
    Jedenfalls war es ein Gebäude mit einer geradezu befremdlich ausdruckslosen Innenausstattung. Wie bei dem Aufzug, mit dem ich gekommen war, waren die verwendeten Materialien vom Besten, aber sie boten keinen Angriffspunkt. Der Boden bestand aus fein poliertem, glänzendem Marmor, und die Wände waren gelblich-weiß wie die Semmeln, die ich immer zum Frühstück esse. Zu beiden Seiten des Korridors reihten sich massive Holztüren, jede mit einem die Zimmernummer anzeigenden Metallschild versehen; die Nummern waren allerdings blödsinnig unregelmäßig. Auf ›936‹ folgte ›1213‹, die nächste war ›26‹. So verrückte Zimmeranordnungen gibt’s nicht. Irgendetwas lag hier schief.
    Die junge Frau redete fast nichts. Sie hatte zwar ›Hier entlang, bitte‹ zu mir gesagt, aber das waren nur die entsprechenden Lippenbewegungen gewesen, die Stimme fehlte. Vor meinem jetzigen Job hatte ich zirka zwei Monate lang einen Lippenlesekursus besucht, und deshalb konnte ich in etwa verstehen, was sie sagte. Anfangs dachte ich, mit meinen Ohren wäre etwas nicht in Ordnung. Erst der lautlose Aufzug, dann das klanglose Räuspern und Pfeifen, das hatte mich in Sachen Akustik ziemlich fertiggemacht.
    Versuchsweise räusperte ich mich. Es war immer noch gedämpft, klang aber wesentlich besser als das Räuspern im Aufzug. Ich war erleichtert und gewann wieder ein Stück Vertrauen in meine Ohren. Alles bestens: Meine Ohren waren okay. Demnach lag das Problem am Mund der Frau.
    Ich ging hinter ihr her. Das Geklapper ihrer spitzen Absätze hallte in dem leeren Korridor wie ein Steinbruch kurz nach der Mittagspause. Der Marmor spiegelte ihre bestrumpften Waden.
    Die Frau war fett. Sie war jung und schön, nichtsdestoweniger aber fett. Dicke Frauen, die jung und schön sind, haben etwas Merkwürdiges. Ich sah mir, während ich hinter ihr herging, ihren Nacken, ihre Arme und Beine an. Ihr Körper war in einem Maße fleischig, als wäre über Nacht eine Menge leisen Schnees darauf gefallen.
    In Gesellschaft junger, schöner, dicker Frauen gerate ich immer ganz durcheinander. Warum, weiß ich selber nicht. Das heißt, vielleicht deswegen, weil ich mir dann einfach die Essgewohnheiten der Betreffenden ausmalen muss. Wenn ich eine dicke Frau sehe, schwirren mir automatisch Szenen im Kopf herum, wie sie genüsslich die mitten auf dem Teller liegen gebliebene Kresseverzierung verspeist oder mit einem Stück Brot liebevoll den letzten Tropfen Buttersahnesoße aufwischt. Ich kann nicht anders. Wie Säure, die sich durch Metall frisst, habe ich dann den Kopf so voll von
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