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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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ich nach und nach den Boden ringsum ab. Ich stand auf einer etwa drei Meter im Quadrat messenden Betonbühne; jenseits davon fiel steil eine Felswand ab, die Sohle war nicht auszumachen. Und es gab weder Geländer noch Absperrung. Ich war einigermaßen verärgert: Auch darauf hätte das Mädchen mich aufmerksam machen müssen.
    Seitlich an der Bühne war eine Aluminiumleiter angebracht, für den Abstieg. Ich schlang mir die Taschenlampe schräg um die Brust und stieg vorsichtig Stufe für Stufe die glitschige Leiter hinab. Mit jeder Stufe wurde das Rauschen des Wassers lauter und deutlicher. Hinter dem Wandschrank im Zimmer eines Hochhauses ein Felseinschnitt, auf dessen Grund ein Bach floss: Das gab’s doch nicht! Und noch dazu mitten in Tokyo! Je länger ich über alles nachdachte, desto heftiger schmerzte mir der Kopf. Zuerst der grässliche Aufzug, dann das dicke Mädchen, das sprach, ohne einen Ton hervorzubringen, und nun dies. Vielleicht hätte ich den Auftrag einfach ablehnen und nach Hause gehen sollen. Das Ganze war zu gefährlich und von vorne bis hinten verrückt. Trotzdem stieg ich in der Dunkelheit weiter die Felswand hinab. Zum einen aus einem Gefühl von Berufsehre, und zum anderen wegen der dicken Kleinen in dem rosafarbenen Kostüm. Irgendwie machte ich mir Sorgen um sie, den Auftrag zu schmeißen und mich zurückzuziehen brachte ich einfach nicht fertig.
    Nach zwanzig Stufen verschnaufte ich ein bisschen, nach weiteren achtzehn stand ich auf Grund. Vorsichtig leuchtete ich vom Fuß der Leiter aus in die Runde. Ich stand auf einer harten, flachen Felsplatte, etwas weiter vorn floss ein zirka zwei Meter breiter Bach. Im Licht der Taschenlampe tanzte die Wasseroberfläche wie eine Fahne im Wind. Der Bach schien ziemliche Strömung zu haben, aber wie tief er war und welche Farbe das Wasser hatte, konnte ich nicht erkennen. Ich sah nur, dass er von links nach rechts floss. Mehr nicht.
    Den Boden ableuchtend, marschierte ich die Felsplatte entlang bachauf. Hin und wieder hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas um mich herumlungere, und riss dann die Taschenlampe hoch, bekam aber nichts zu Gesicht. Nur der Bach und die zu beiden Seiten lotrecht aufragenden Felswände waren zu sehen. Wahrscheinlich spielten mir meine Nerven in der Dunkelheit einen Streich.
    Nach fünf, sechs Minuten Fußweg merkte ich am Hall des Wasserrauschens, dass die Decke wesentlich niedriger geworden sein musste. Ich richtete den Strahl der Taschenlampe nach oben, konnte die Decke aber wegen der undurchdringlichen Dunkelheit nicht ausmachen. Danach kamen, wie das Mädchen gesagt hatte, auf beiden Felsseiten ein paar Abzweigungen, die aber besser als Felsspalten zu bezeichnen waren. Unten sickerte Wasser heraus, das sich in dünnen Bahnen zum Bach schlängelte. An eine dieser Spalten trat ich heran und versuchte sie auszuleuchten, konnte aber nichts sehen. Klar war nur, dass sie sich nach hinten zu enorm verbreiterte. Hineinzugehen hatte ich nicht im Entferntesten Lust.
    Die Taschenlampe fest in der linken Hand, tappte ich durch die Dunkelheit weiter bachauf; ich kam mir vor wie ein Fisch auf der Evolutionsleiter. Der felsige Boden war vom Wasser des Baches so glitschig, dass ich bei jedem Schritt höllisch aufpassen musste. Wenn ich in dieser Rabenschwärze ausglitt und in den Bach fiel oder die Taschenlampe zerschlüge, säße ich ganz schön in der Tinte.
    Ich konzentrierte mich voll und ganz auf meine Füße, sodass ich das weiter vorn hin und her schwankende schwache Licht zuerst gar nicht bemerkte. Als ich dann hochsah, war es schon auf sieben, acht Meter herangekommen. Automatisch machte ich die Taschenlampe aus, fuhr mit der Hand durch den Schlitz im Gummimantel und zog mein Messer aus der Gesäßtasche. Ich tastete nach der Klinge und richtete sie auf. Um mich herum nur Schwärze und das Rauschen des Baches.
    Als ich die Taschenlampe ausgeknipst hatte, hatte das schwache gelbe Licht drüben sofort seine Bewegungen eingestellt. Jetzt beschrieb es in der Luft zwei große Kreise. Das sollte offenbar ›Keine Sorge, alles okay‹ bedeuten. Ich blieb aber so stehen, ganz gespannte Aufmerksamkeit, und wartete ab, was mein Gegenüber tun würde. Schließlich wurde das Licht wieder hin und her geschwenkt. Es kreiselte auf mich zu wie ein vernunftbegabter Riesenleuchtkäfer. Wie gebannt starrte ich auf das Licht, in der Rechten mein Messer, in der Linken die ausgeknipste Taschenlampe.
    In etwa drei Metern Entfernung blieb das Licht
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