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Brennendes Land

Brennendes Land

Titel: Brennendes Land
Autoren: Bruce Sterling
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    Seinem Laptop zufolge sah Oscar sich das Video über die Unruhen in Worcester bereits zum einundfünfzigsten Mal an. Das ruckelige Acht-Minuten-Video war derzeit sein bevorzugtes Meditationsobjekt. Die Bilder waren körnig, aufgenommen von einer Überwachungskamera in Massachusetts.
    Die Presse sprach in diesem Zusammenhang von den ›Worcester-Unruhen vom 1. Mai ‘42‹. Oscars professioneller Einschätzung zufolge hatte der Vorfall vom 1. Mai die Bezeichnung ›Unruhen‹ nicht verdient, denn er war zwar von extremer Destruktivität geprägt, jedoch in keinerlei Hinsicht aufrührerisch gewesen.
    Die ersten Bilder zeigten für Massachusetts typische Passanten. Worcester war seit jeher eine ziemlich harte und hässliche Stadt, doch wie viele andere Gebiete im alten industriellen Nordosten auch hatte Worcester in letzter Zeit aufgeholt. Niemand in der Menge zeigte Anzeichen von Aggression oder Empörung. Keinerlei Vorgänge, welche die Aufmerksamkeit der Behörden oder der verschiedenen Formen automatischer Überwachung erregt hätten. Das waren ganz normale Passanten. Eine Schlange von Bankkunden vor einem Geldautomaten. Ein haltender Bus, aus dem Fahrgäste ausstiegen.
    Dann wurde das Getriebe auf der Straße ganz allmählich dichter. Es waren mehr Menschen in Bewegung. Und auch wenn es nicht gleich auffiel, so hatten doch immer mehr Leute Koffer, Rucksäcke oder übergroße Taschen dabei.
    Oscar wusste genau, dass diese so normal wirkenden Leute Teil einer Verschwörung waren. Was wirklich seine Bewunderung hervorrief, war ihre gute Kleidung, ihr unauffälliges, lässiges Verhalten. Obwohl sie eindeutig nicht aus Worcester, Massachusetts, stammten, verkörperte jeder Einzelne auf seine Art das Bild, das die Öffentlichkeit von Worcester hatte. Sie alle waren Ebenbilder und Doppelgänger, unheimliche, brillante Fälschungen, Fremde, die Böses im Sinn hatten, ohne dass es einem auf den ersten Blick aufgefallen wäre.
    Sie passten in keines der geläufigen demografischen Profile von Unruhestiftern, Kriminellen oder gewalttätigen Radikalen. Sicherheitsmaßnahmen, die bei ihnen gegriffen hätten, hätten alle Stadtbewohner erfasst.
    Oscar vermutete, dass es sich um radikale Prolos handelte. Um Dissidenten, Autonome, Zigeuner, Angehörige der Freizeitgewerkschaft. Diese Annahme schien vernünftig, denn ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung war arbeitslos. Über die Hälfte der Bevölkerung ging keiner traditionellen Beschäftigung mehr nach. Die moderne Wirtschaft brachte nicht mehr viele Erwerbsmuster hervor, welche die Zeit der Menschen in Anspruch nahmen.
    Die Millionen Entwurzelten stellten ein unerschöpfliches Reservoir für Sekten, Prologangs und Straßenbanden dar. Große Banden waren heutzutage eine ganz alltägliche Erscheinung, doch diese Versammlung hier war kein Mob. Dies war auch keine gewöhnliche Straßengang oder Miliz, denn die Leute grüßten einander nicht. Offenbar wurden weder Befehle ausgegeben noch entgegengenommen, es gab keine Farb- oder Handzeichen, keine erkennbare Hierarchie. Die Leute schienen sich nicht zu kennen.
    Tatsächlich – Oscar war dies erst nach wiederholtem Studium des Videos aufgefallen – nahmen sie einander nicht als Angehörige derselben Gruppe wahr. Weiterhin vermutete er, dass viele von ihnen – vielleicht die meisten – gar nicht wussten, was sie als nächstes tun würden.
    Dann auf einmal brach Hektik aus. Auch beim einundfünfzigsten Mal war es immer noch verblüffend anzusehen.
    Rauchbomben explodierten, hüllten die Straße in Nebel. Taschen, Koffer und Rucksäcke wurden geöffnet, und deren Besitzer zückten ein bislang unsichtbares Arsenal von Bohrern, Bolzenschneidern und Wagenhebern. Sie marschierten durch den wogenden Nebel und machten sich ans Werk, als ob sie täglich Banken demolierten.
    Ein brauner Lieferwagen fuhr im Schritttempo vorbei, ein Lieferwagen ohne Nummernschilder. Während er die Straße entlangfuhr, blieben alle anderen Fahrzeuge stehen. Keines von ihnen würde sich je wieder in Bewegung setzen, denn die Schaltungen waren von einem hochfrequenten elektromagnetischen Impuls zerstört worden, der keineswegs zufällig auch die finanzielle Hardware der Bank lahmgelegt hatte.
    Der braune Lieferwagen fuhr davon und kam nicht mehr zurück. Er wurde kurz darauf durch einen großen, amtlich wirkenden Abschleppwagen ersetzt. Der Abschleppwagen rumpelte über das Pflaster, hakte sich beim Geldautomaten ein und riss den gepanzerten
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