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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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bist?«
    »Ich komme in die Bücherei«, sagte ich. »Ich sehe gerne Leuten beim Arbeiten zu.«
    »Auf Wiedersehen!«, sagte sie.

    Wie Joseph Cotten im Dritten Mann sah ich ihr lange nach, wie sie sich auf dem schnurgeraden Weg mitten durch den Park entfernte. Nachdem sie zwischen den Bäumen verschwunden war, beobachtete ich die Tauben. Jede hatte ihren besonderen Gang. Ein Weilchen später kam eine Dame mit einem kleinen Mädchen an der Hand und streute Popcorn aus, sodass die Tauben in meiner Nähe alle aufflogen, dem Popcorn zu. Das Mädchen war drei, vier Jahre alt und lief, wie alle Mädchen in diesem Alter, mit ausgebreiteten Armen auf die Tauben zu, um sie zu umarmen. Die ließen sich natürlich nicht einfangen, Tauben führen ihr eigenes kleines Leben. Die vornehme Mutter warf nur einmal einen kurzen Blick zu mir, dann sah sie nicht mehr her. Jemand, der am frühen Montagmorgen im Park auf dem Rasen liegt, fünf leere Bierdosen neben sich, kann kein anständiger Mensch sein.
    Ich schloss die Augen und versuchte, mich an die Namen der Brüder Karamasow zu erinnern. Mitja, Iwan, Aljoscha und der uneheliche Smerdjakow. Wie viele Menschen mochte es wohl auf der Welt geben, die die Namen der Brüder Karamasow hersagen konnten?
    Den Himmel betrachtend, kam ich mir vor wie ein kleines Boot, das in den Weiten des Ozeans treibt. Kein Wind, keine Wellen, nur ich, der dort treibt. Ein auf dem Ozean treibendes Boot hat etwas Besonderes, sagt Joseph Conrad in Lord Jim, im Schiffbruch-Abschnitt. Der Himmel war hoch und strahlte heiter wie eine über jeden menschlichen Zweifel erhabene Idee. Von der Erde aus betrachtet erscheint der Himmel mitunter als reines Kondensat allen Daseins. Ebenso das Meer. Wenn man tagelang das Meer betrachtet, glaubt man, die Welt sei nichts als Meer. Conrad dachte wahrscheinlich genau wie ich. Ein in die Weiten des Ozeans geworfenes, von der Fiktion Schiff losgelöstes Boot hat in der Tat etwas Besonderes, etwas, dem sich niemand entziehen kann.
    Ich trank, auf dem Rasen liegend, das letzte Bier, rauchte eine Zigarette und vertrieb alle literarischen Gedanken. Die Realität rief. Mir blieben nur noch eine Stunde und ein paar Minuten.
    Ich stand auf und brachte die leeren Bierdosen zum Abfalleimer. Dann nahm ich die Kreditkarten aus dem Portemonnaie und verbrannte sie im Aschenbecher. Die vornehme Mutter schaute wieder kurz zu mir her. Ein anständiger Mensch verbrennt montags morgens im Park nicht seine Kreditkarten. Zuerst verbrannte ich die American Express-, dann die Visa-Karte. Sie fingen lustig Feuer. Ich spielte mit dem Gedanken, auch die Paul-Stuart-Krawatte zu verbrennen, ließ es dann aber sein. Es wäre zu auffällig gewesen, und es bestand auch gar keine Notwendigkeit, die Krawatte zu verbrennen.
    Anschließend erstand ich am Kiosk zehn Tüten Popcorn, von denen ich neun für die Tauben auf dem Boden verstreute und eine auf einer Bank selbst verzehrte. Die Tauben scharten sich um das Popcorn wie Statisten in einem Film zum Jubiläum der Oktoberrevolution. Ich aß mit ihnen. Ich hatte schon lange kein Popcorn mehr gegessen, es schmeckte wirklich gut.
    Die vornehme Mutter und ihre kleine Tochter schauten dem Springbrunnen zu. Die Mutter schien ungefähr in meinem Alter zu sein. Sie erinnerte mich an meine Klassenkameradin, die den Revoluzzer geheiratet, ihm zwei Kinder geboren hatte und dann spurlos verschwunden war. Die konnte nicht einmal mehr mit ihren Kindern in den Park gehen. Wie sie das empfand, wusste ich natürlich nicht, doch mir schien, dass ich zumindest in dem Punkt, dass mein Leben bald vorbei sein würde, mit ihr etwas gemeinsam hatte. Sie würde wahrscheinlich abstreiten, irgendetwas mit mir gemeinsam zu haben. Wir hatten uns fast zwanzig Jahre nicht gesehen, zwanzig Jahre, in denen sich allerhand ereignet hatte. Unser Umfeld war verschieden, und wir dachten verschieden. Beide verabschiedeten wir uns aus unserem Leben, doch sie hatte es, anders als ich nun, aus freien Stücken getan. Mir hatte man im Schlaf mit Gewalt das Laken weggezogen.
    Bestimmt würde sie mich dafür kritisieren. Was hast du denn schon gewählt, hm? würde sie sagen. Und sie hätte Recht. Ich hatte nicht gewählt, nichts. Höchstens, dass ich dem Professor verziehen und mit seiner Enkelin nicht geschlafen hatte. Doch was half mir das? Würde sie aufgrund dessen zugestehen, dass ich meine Rolle bei der Auslöschung meiner selbst damit erfüllt hatte?
    Ich wusste es nicht. Zwischen uns lag ein
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