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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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Bewegung. Wenn ich mir also einen Fluchtweg wünsche, gibt es auch einen! Verstehst du, was ich meine?«
    »Nur zu gut!«, sage ich. »Ich bin auch erst gestern darauf gekommen. Dass das hier eine Welt der Möglichkeiten ist, meine ich. Hier gibt es alles – und nichts.«
    Der Schatten bleibt im Schnee sitzen und sieht mich lange an. Er sagt kein Wort, nickt nur ein paar Mal. Es schneit jetzt etwas stärker. Auf die Stadt scheint wieder ein Schneesturm zuzukommen.
    »Setzt man erst einmal voraus, dass es einen Ausgang gibt, braucht man bloß noch die unwahrscheinlichen Stellen auszuschließen«, fährt der Schatten fort. »Als Erstes kann man das Tor streichen. Selbst wenn wir durch das Tor fliehen könnten – der Wächter hätte uns im Nu wieder eingefangen. Der Kerl kennt doch in der Gegend da jeden Ast und jeden Grashalm! Außerdem denken alle bei Flucht sofort an das Tor. Der Ausgang kann unmöglich an einer Stelle sein, die einem sofort einfällt. Die Mauer kann man auch ausschließen. Ebenso das Osttor. Das ist absolut dicht; der Zulauf des Flusses ist mit dicken Gittern versperrt. Da kommt man auf keinen Fall durch. Also bleibt nur noch der See im Süden. Wir werden die Stadt gemeinsam mit dem Fluss verlassen.«
    »Bist du ganz sicher?«
    »Ja, absolut. Das kann man doch förmlich riechen! Alle anderen Ausgänge sind schwerstens verbarrikadiert, nur der See nicht, ihn hat man einfach so gelassen, keinen Finger hat man gerührt. Nicht einmal umzäunt ist er. Findest du das nicht komisch? Nur einen Zaun aus Angst haben sie um den See gezogen. Wenn wir es schaffen, diese Angst zu überwinden, dann können wir die Stadt besiegen.«
    »Wann ist dir das denn aufgefallen?«
    »Als ich den Fluss zum ersten Mal sah. Der Wächter hat mich einmal mitgenommen, fast bis zur Westbrücke. Ich sah den Fluss und dachte, man merkt ihm absolut nichts Böses an, im Gegenteil, das Wasser sprüht vor Lebenskraft. Ich dachte, wenn wir diesem Wasser folgen, wenn wir uns dem Fluss anvertrauen, dann wird er uns aus der Stadt herausführen, zurück in die Welt, wo das echte, wirkliche Leben ist. Kannst du glauben, was ich sage?«
    »Ja«, sage ich. »Ich kann glauben, was du sagst.Vielleicht wird uns der Fluss dorthin führen. Zurück in die Welt, die wir hinter uns gelassen haben. Ich kann mich jetzt an immer mehr Details aus dieser Welt erinnern. An die Luft, die Geräusche, das Licht – an all das. Ein Lied hat mir die Erinnerungen zurückgebracht.«
    »Ich kann dir nicht sagen, ob diese Welt so toll ist, ich weiß es auch nicht«, sagt der Schatten. »Aber es ist zumindest die Welt, in die wir gehören. Eine Welt, in der es Gutes gibt und Schlechtes und Dinge, die weder gut sind noch schlecht. Du wurdest dort geboren, und du wirst dort sterben. Wenn du stirbst, werde auch ich verschwinden. Das ist das Natürlichste von der Welt.«
    »Vielleicht hast du Recht«, sage ich.
    Dann sehen wir beide noch einmal auf die Stadt hinunter. Der Uhrturm, der Fluss, die Brücken, die Mauer, der Rauch – alles ist hinter heftigem Schneetreiben verschwunden. Wir sehen nur noch eine einzige riesige Schneewand, die wie ein Wasserfall vom Himmel auf die Erde herunterbraust.
    »Komm, lass uns weitergehen, oder hast du dich noch nicht erholt?«, fragt der Schatten. »Bei diesem Wetter bricht der Wächter die Einäscherung der Tiere vielleicht vorzeitig ab und geht früher nach Hause.«
    Ich nicke, stehe auf und klopfe mir den Schnee von der Mütze.

39  HARD-BOILED WONDERLAND
POPCORN, LORD JIM, ERLÖSCHEN
    Auf dem Weg zum Park hielt ich bei einem Getränkehändler und kaufte Dosenbier. Auf meine Frage, welche Marke sie bevorzuge, antwortete die Bibliothekarin, das sei ihr egal – Hauptsache, es schäume und schmecke nach Bier. Das deckte sich in etwa mit meiner Auffassung. Über uns erstreckte sich der Himmel so fleckenlos blau, als wäre er gerade erst erschaffen worden, und es war Anfang Oktober: Was wollte man da groß nach der Marke fragen – Hauptsache, es schäumte und schmeckte nach Bier.
    Da ich aber Geld übrig hatte, erstand ich sechs Dosen Importbier. Die goldenen Miller-Highlife-Dosen funkelten, als hätte die Sonne höchstselbst sie gefärbt. Auch Duke Ellington passte wunderbar zu dem heiteren Oktobermorgen. Ellington würde allerdings auch zu einem Silvesterabend am Südpol passen.
    Die Hände am Steuer, pfiff ich Lawrence Browns einzigartiges Posaunensolo in Do Nothing Till You Hear From Me mit. Dann spielte Johnny Hodges sein
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