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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Autoren: Haruki Murakami
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schon kurz vor der Westbrücke; ich würde eine Menge Zeit verlieren, wenn ich jetzt wieder umkehrte. Mir wird heißer und heißer, der Schweiß tropft mir von der Stirn.
    Der Schatten hinter mir dreht sich um und sagt, mit Blick auf den zurückliegenden Weg: »Die Fußspuren werden uns sofort verraten.«
    Während ich weiter durch den Schnee stapfe, stelle ich mir vor, wie uns der Wächter verfolgt. Vermutlich wird er uns durch den Schnee hinterherrennen wie der Teufel persönlich. Er ist ungleich kräftiger als ich, überhaupt kein Vergleich, und er muss keinen Schatten tragen. Außerdem kann ich sicher sein, dass er die richtige Ausrüstung hat, um sich im Schnee vollkommen problemlos bewegen zu können. Jeder Schritt Vorsprung ist wertvoll, bevor er in seine Hütte zurückkehrt, sonst ist alles aus!
    Ich sehe die Bibliothekarin vor mir, wie sie im Lesesaal vor dem Ofen sitzt und auf mich wartet. Die kleine Ziehharmonika liegt auf dem Tisch, im Ofen glühen die Kohlen, die Kaffeekanne dampft. Ich kann fühlen, wie ihr Haar meine Wange berührt, kann ihre Hand auf meiner Schulter spüren. – Nein, ich darf den Schatten hier nicht sterben lassen! Wenn der Wächter ihn zu fassen kriegt, wirft er ihn wieder in das Kellerloch zurück, wo der sichere Tod auf ihn wartet. Ich nehme alle meine Kräfte zusammen, setze einen Fuß vor den anderen, rechts, links, rechts, links – und drehe mich wieder und wieder um, um mich zu vergewissern, dass jenseits der Mauer immer noch grauer Rauch aufsteigt.
    Auf dem Weg treffen wir ein paar Tiere. Sie irren im tiefen Schnee umher und suchen vergebens nach Futterresten. Mit ihren tiefen, blauen Augen schauen sie, wie ich mit dem Schatten auf dem Rücken, weißen Atem verströmend, an ihnen vorüberziehe. Sie scheinen genauestens Bescheid zu wissen über uns und die Bedeutung unseres Tuns.
    Als es steiler wird, bleibt mir die Luft weg. Das Gewicht des Schattens beginnt Wirkung zu zeigen, meine Füße bleiben förmlich im Schnee stecken. Genau besehen, habe ich mich schon ewig nicht mehr sportlich betätigt. Mein weißer Atem wird immer dichter, die Schneeflocken, die jetzt wieder heruntersegeln, beißen in den Augen.
    »Alles in Ordnung?«, fragt der Schatten hinter mir. »Musst du dich ein bisschen ausruhen?«
    »Nur fünf Minuten, tut mir leid. In fünf Minuten bin ich wieder okay.«
    »Völlig in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Dass ich nicht laufen kann, ist schließlich meine Schuld. Du kannst so lange Pause machen, wie du Lust hast. Mein Gott, ich scheine dir wirklich alles vorzuschreiben!«
    »Aber das hier tue ich doch auch für mich«, sage ich. »Oder etwa nicht?«
    »Ich will es hoffen«, sagt der Schatten.
    Ich setze ihn ab, lasse mich in den Schnee fallen und schnappe nach Luft. Mein Körper ist derart überhitzt, dass ich nicht einmal mehr die Kälte des Schnees spüre. Meine Beine sind steif und starr, sie fühlen sich an wie zwei Steine, die mir von der Hüfte bis zu den Zehenspitzen reichen.
    »Doch manchmal kommen sogar mir Zweifel«, sagt der Schatten. »Zum Beispiel, dass du hier vielleicht doch zufrieden und glücklich hättest werden können, wenn ich nur den Mund gehalten hätte und ohne Aufhebens gestorben wäre.«
    »Ja, vielleicht«, sage ich.
    »Und ich habe es dir vermasselt.«
    »Was du mir gesagt hast, musste ich wissen«, sage ich.
    Der Schatten nickt. Dann schaut er hoch und sagt mit einem Blick auf den grauen Rauch, der aus dem Apfelwäldchen aufsteigt: »Sieht ganz danach aus, dass der Wächter noch ein Weilchen braucht, bis er alle Tiere verbrannt hat. Den Aufstieg haben wir außerdem bald geschafft. Dann müssen wir nur noch außen um den Südhügel, und wir sind fürs Erste in Sicherheit. Der Wächter kann uns nicht mehr einholen.« Der Schatten hebt eine Hand voll von dem weichen Schnee auf und lässt ihn wieder auf den Boden rieseln. »Am Anfang war es nur eine Art Intuition, dass ich von der Existenz eines geheimen Ausgangs aus dieser Stadt überzeugt war. Aber dann wurde es mehr und mehr zur Gewissheit. Warum? Weil diese Stadt vollkommen ist. Und Vollkommenheit setzt voraus, dass es alle denkbaren Möglichkeiten gibt. Genau genommen ist das hier nicht einmal eine Stadt, sondern etwas Fließendes, ein ganzer Kosmos. Die Stadt bietet alle Möglichkeiten, ändert unaufhörlich ihr Aussehen und erhält sich damit die Vollkommenheit. Das heißt, Vollendung bedeutet in dieser Welt hier keinen starren Zustand, sondern einen allmählichen Prozess,
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