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Hannas Entscheidung

Hannas Entscheidung

Titel: Hannas Entscheidung
Autoren: Kerstin Rachfahl
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zufügen würde. Sie atmete tief ein, hielt die Luft an, während sie den Auslöseknopf drückte und die Nikon D3200 absolut ruhig hielt. Der Apparat war nichts im Vergleich zu ihrer Profikamera, einer Nikon D4, die in ihrem speziellen Rucksack mit eingebautem Kamerafach sicher verstaut in ihrem Zimmer lag. Schließlich gab sie sich mit ihrer fotografischen Ausbeute zufrieden.
    Eigentlich hätte Hanna sich nicht mehr mit dem Thema Fotografie beschäftigen dürfen. Nachdem sie aber am ersten Tag die katastrophalen Bilder des Professors gesehen hatte, konnte sie einfach nicht widerstehen, vom nächsten Tag an das Fotografieren der Wandmalereien zu übernehmen. Der erste Blick durch das Objektiv, ihr Zeigefinger auf dem Auslöser und ihre Konzentration auf das Motiv waren reiner Balsam für ihre Seele. Der Professor konnte beim Anblick der Ergebnisse ihrer Arbeit seiner Begeisterung gar nicht genug Ausdruck verleihen. Ganz zu schweigen von seiner Reaktion auf ihren geschickten Umgang mit der Fotosoftware auf seinem Laptop, mit dem sie verschiedene Szenarien aus Fotos mit unterschiedlicher Tiefe, Belichtung und Zusammensetzung erstellte.
     
    Professor Bartolis Schreiben mit der Einladung zu dem Projekt hatte Hanna zu einem Zeitpunkt erreicht, der nicht besser hätte sein können. Ihre Arbeit über die frühchristliche Geschichte und ihre Symbolik war gerade abgegeben und der erste Part ihres Fernstudiums der Kunstgeschichte an der Open University of England somit abgeschlossen. Nach ihrer Zeugenaussage vor Gericht hatte sie sich für einen neuen Wohnort entscheiden müssen, an dem sie nicht mit Menschen aus ihrer Vergangenheit in Berührung käme. Ihre Wahl war auf Bonn gefallen. Zum Glück gab es nur wenig Menschen, zu denen sie in ihrem Leben Kontakt gehabt hatte, und die lebten überwiegend in Hamburg und Berlin. In dem Schreiben hatte ihr der Professor einen auf drei Monate befristeten Job angeboten, der sie mit einer Menge Kunstwerken der christlichen Geschichte in Berührung brachte.
     
    Hanna kletterte das Gerüst hinunter. Der Tag war zu weit fortgeschritten, sodass das Licht für weitere Aufnahmen nicht mehr ausreichte. Die anderen Mitglieder des Teams packten ihre Sachen zusammen. Es war Samstag und morgen würden sie nicht arbeiten. Zwei der Hilfskräfte waren Studentinnen an der Hochschule für bildende Künste in Dresden, drei kamen von der staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart und ein Student kam von der Technischen Universität in München. Letzterer fertigte bei Professor Bartoli seine Doktorarbeit über Konservierung und Restaurierung an. Hanna nahm den Chip aus der Kamera und übertrug die Bilder auf den Laptop des Professors.
    »Hey, Sasa, hast du Lust auf eine Pizza bei Luigis?«
    Ein blondes Mädchen tauchte an ihrer Seite auf. Hanna fiel der Name der kleinen, zierlichen Person nicht ein. Es gab Dinge, die sich in ihrem neuen Leben nicht geändert hatten. Ihr mangelndes Interesse, sich in eine Gruppe einzufügen oder mit anderen Menschen nicht leicht Freundschaft zu schließen, gehörten dazu. In der Rolle einer Studentin, wenn auch von einer Fernuniversität, fiel es ihr schwer, sich der sozialen Dynamik der Studentengruppe zu entziehen. Ein oder zwei Mal war sie mit den anderen unterwegs gewesen, aber heute stand ihr nicht der Sinn danach. Heute war ihr Geburtstag. Ihr richtiger Geburtstag, ein Tag, den sie seit ihrer Geburt mit Marie teilte. Doch heute würde sie ihn allein verbringen und noch nicht mal Maries Stimme durchs Telefon hören. Ein seltsam befremdlicher Gedanke. Sie erinnerte sich, wie sie letztes Jahr spöttisch zu Marie gesagt hatte, man könne seinen Geburtstag nicht verpassen. Marie machte ihren gemeinsamen Tag zu etwas Besonderem, auch wenn sie sich dagegen wehrte. Hanna, die sich immer selbst genug gewesen war, fühlte sich einsam.
    Sie verzog die Lippen zu einem kurzen Lächeln für die Studentin und schüttelte den Kopf.
    »Ach, komm schon. Marco hat seine Gitarre dabei und wir wollen später noch alle gemeinsam an den Tiber. Sei keine Spielverderberin. Selbst der Professor kommt mit, nicht wahr, Baba?«
    Der Professor, dessen glänzende Augen aufmerksam auf den Bildschirm gerichtet gewesen waren, hob mit einem gequälten Lächeln den Kopf. Ob wegen der Verunstaltung seines Namens oder in Vorausschau auf den Abend, konnte Hanna nicht erkennen. Sie versteckte ihr Grinsen vor Sonja – richtig, Sonja hieß das Mädchen oder wie sie es selbst immer gerne
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