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Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga

Titel: Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
Autoren: Anne Laureen
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Prolog
 
12. Februar 1894, Pazifischer Ozean
 
    Sie fragte sich, wann es endlich aufhören würde. Vier Tage schon dauerte der Sturm, und noch immer war kein Wetterumschwung in Sicht. Den Urgewalten schutzlos ausgeliefert, stöhnte und ächzte die RMS Madeleine wie ein verletztes Tier.
    Ob das die Strafe für meine Kühnheit ist?, sinnierte Ricarda Bensdorf, während sie in einer Ecke ihrer Kabine kauerte, die Beine fest an die Brust gezogen.
    Das lange blonde Haar fiel unordentlich über ihre Schultern, das graue Reisekleid war zerknittert und mit Flecken übersät. Eigentlich war es nicht ihre Art, sich gehen zu lassen, doch unter diesen Umständen lohnte es nicht, sich umzuziehen. Der Sturm würde alle Bemühungen wieder zunichtemachen.
    Die Unterkunft der jungen Frau befand sich in einem ähnlich unordentlichen Zustand wie ihr Äußeres. Der Inhalt ihrer Taschen lag auf dem Boden, in alle Himmelsrichtungen verstreut. Ricarda hatte den Versuch aufgegeben, ihre wenigen Besitztümer vor dem Umherfliegen zu bewahren. Lediglich einen lederbezogenen Kasten mit ihrem Stethoskop hielt sie in den Händen - alles durfte verloren gehen, nur das nicht.
    Noch wenige Tage zuvor hatte es den Anschein gehabt, als könne sie die Überfahrt bei gutem Wetter hinter sich bringen. Sie hatte ein spiegelglattes blaues Meer und dramatische Spiele aus Wolken und goldenem Licht bewundert, wie es sie ausschließlich in diesen Breiten gab. Neuseeland war nicht mehr weit, und Ricarda hatte zu träumen begonnen. All die wunderbaren Schätze des Landes, die sie bislang nur aus Büchern kannte, würde sie schon bald mit eigenen Augen sehen: grüne Ebenen, schneebedeckte Hügel, weite Strände, fremdartige Tiere und Pflanzen, Menschen mit bronzefarbener Haut und seltsamen Riten.
    Doch dann hatten sich die Wolken zu einer dunkelgrauen Decke verdichtet, durch die kein Sonnenstrahl mehr drang. Das Heulen des Sturms übertönte schon bald das Stampfen der Maschinen, Wellen donnerten gegen den Schiffsrumpf und überspülten das Oberdeck. Die dort gelagerte Ladung war weggerissen worden, und das Gerücht, dass zwei Seeleute über Bord gegangen seien, machte die Runde. Und nicht allein das ängstigte Ricarda. Immer wenn sich der eiserne Koloss unter einem riesigen Brecher aufbäumte, ächzten alle Teile und es ertönte eine markerschütternde Kakophonie.
    Was könnte den Untergang noch aufhalten?
    Man hatte den Passagieren gesagt, dass sie ruhig bleiben sollten. Dass ihre Sicherheit gewährleistet sei, wenn sie sich an die Weisungen des Kapitäns halten würden. Aber Ricarda bezweifelte das.
    Als das Tosen für einen Augenblick nachließ, hörte sie ein lautes Weinen am Ende des Ganges. Es klang verzweifelt.
    Ricarda überlegte, ob sie nachsehen solle. Vielleicht hat sich ja jemand verletzt? Sie hatte schon einigen Mitreisenden geholfen und war deshalb auf dem Dampfer als German nurse bekannt. Es gab zwar einen Schiffsarzt, aber aus Angst vor hohen Honorarforderungen konsultierten die Passagiere vom Zwischendeck ihn eher selten. Ricarda hatte mit Absicht nicht erzählt, dass sie in Wirklichkeit eine ausgebildete Ärztin war, denn sie fürchtete, auf das gleiche Unverständnis wie in Deutschland zu stoßen. Von einer Krankenschwester ließ man sich gern versorgen, denn sie verletzte nicht die geltende Ordnung, nach der Frauen sich nicht mit Männern gleichstellen sollten. Ricarda hätte sich natürlich bedeckt halten, in ihrer Kabine bleiben und nichts von ihrem medizinischen Wissen preisgeben können, aber der Berufseid, den sie abgelegt hatte, verpflichtete sie zu helfen. Also nahm sie in Kauf, dass man sie für eine Krankenschwester hielt. Allerdings schwor sie sich, dass sich das in Neuseeland ändern würde.
    Ricarda wusste, dass es unvernünftig wäre, die Kabine zu verlassen. Doch das Weinen hörte und hörte nicht auf, und so gab sie sich einen Ruck. Sie öffnete das Kästchen auf ihrem Schoß, legte sich das Stethoskop um den Hals und stand auf. Die Hoffnung, dass es auf dem Gang vernünftiges Licht geben würde, hatte sie nicht. Die Beleuchtung war bestimmt ganz ausgefallen. In den vergangenen Stunden hatten die Lampen so stark geflackert, dass Ricarda das Licht in ihrer Kabine gelöscht und sich mit der Dunkelheit begnügt hatte.
    Als Ricarda nach der Türklinke griff, ertönte ein dumpfes, metallisches Geräusch, das ihr durch und durch ging. War das eine Warnung? Resolut straffte sie die Schultern und trat auf den Gang, der doch noch
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