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Hannas Entscheidung

Hannas Entscheidung

Titel: Hannas Entscheidung
Autoren: Kerstin Rachfahl
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eine intensive Art, das Leben um sich herum wahrzunehmen, etwas, was ihm früher nur bei ihren Bildern aufgefallen war. Jede Laterne, jedes Schild und jeder Pfosten schien ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Oder ihre nackten Füße, die leicht über die Treppe strichen, als wollte sie die Konturen nachfühlen, die Tausende von Füßen im Laufe der Zeit beim Auf-und-ab-Laufen hinterlassen hatten. Sie leckte ihr Eis, als wäre es die größte Kostbarkeit auf Erden.
    Ben war zurückgegangen und hatte sich ein Eis geholt, als er sicher war, dass sie eine Weile auf der Treppe bleiben würde. Obwohl Eis nicht zu seinem Speiseplan zählte. Entsprechend klassisch fiel seine Wahl aus: Schokolade und Vanille.
     
    »Worüber lächelst du, Sabine?« Ihr neuer Vorname ging ihm leichter über die Lippen, als er es gedacht hatte. Langsam öffnete sie die Augen, die sie geschlossen hatte, nachdem sie mit ihrer Zunge die Eisbällchen einmal umrundet hatte. Das hatte sie jedes Mal aufs Neue gemacht, wenn sie an ihrem Eis leckte. Sein Herz klopfte fest gegen seine Brust, so heftig, dass sie es sehen musste. Er hatte keine Ahnung, wie sie auf sein Erscheinen reagieren würde. Das letzte Mal, als sie sich gesehen hatten, waren sie schweigend auseinandergegangen. Er war dem Befehl seines Obersts gefolgt und hatte Hanna, nachdem er sie geknackt hatte, an das BKA übergeben. Er hatte gewusst, dass er sie danach nie wiedersehen würde. Hanna Rosenbaum war tot. Gestorben im Feuer in einer Hütte am Seeufer in Berlin. Ihr Schwager Lukas hatte das Feuer gelegt und einen Abschiedsbrief vorbereitet, damit alle Welt glaubte, Hanna hätte sich das Leben genommen. Aber Ben hatte ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht und Hanna überzeugt, gegen ihren Schwager auszusagen, ebenso gegen ihren Stiefvater, der Jahre zuvor ihre Entführung in Auftrag gegeben hatte. Ihm war bewusst gewesen, dass Hanna alles verlieren würde, was ihr jemals etwas bedeutet hatte, aber einen Weg zu gehen, der Gerechtigkeit brachte, hieß Opfer zu bringen. Sie war mutig genug gewesen, das zu erkennen. Und doch war er das Gefühl nicht losgeworden, dass es etwas gab, das er nicht sah. Dass sie etwas vor ihm verheimlichte. Er hatte sich selbst eine Mauer gegen ihre Anziehungskraft aufgebaut, die sie umrundet hatte. Zwei Mal hatte er mit ihr geschlafen. Zwei Nächte, die sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatten, nicht allein wegen dem Sex. Es gab etwas anderes, was dabei passiert war und was er nicht verstand.
    In Norwegen hatte sie ihm voller Staunen erklärt, dass sie ihn liebe. Aber er wusste, dass es nicht stimmte. Wie sollte sie, Hanna, einen Mann lieben, der anderen Menschen das Leben nahm? Ihr eigenes eingeschlossen. Er war Soldat und tötete Menschen. Das gehörte zu seinem Job und er war zutiefst von dem überzeugt, was er machte.
    Hanna antwortete ihm nicht. Ihre Zunge glitt ein weiteres Mal um ihr Eis herum, sie schloss die Augen und ließ das Eis in ihrem Mund schmelzen. Verwirrt beobachtete er sie und überlegte, was er machen sollte. Versuchte sie ihn zu ignorieren? Ihr eines Lid öffnete sich, blinzelte, schloss sich wieder. Er seufzte. »Hanna, ich bin kein Geist, der verschwindet, wenn du die Augen schließt.« Hastig sah er sich um. Verdammt, wie konnte ihm so ein Fehler passieren, dass er sie mit ihrem richtigen Namen ansprach? Sie öffnete die Augen, sah ihn an.
    »Schade, ich dachte es würde funktionieren.«
    Das Bedauern in ihrer Stimme versetzte ihm einen Stich. Sie runzelte die Stirn, legte den Kopf schief. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann beugte sie sich leicht vor, als wollte sie ihm ein Geheimnis erzählen. Unwillkürlich beugte er sich von seiner unter ihr sitzenden Position aus vor und wandte ihr sein Ohr zu.
    »Aber weißt du was?«, sagte sie verhalten. »Ich kenne einen Zauberspruch, mit dem man Menschen wie dich aus seinem Leben verjagt.«
    Sie lehnte sich mit einem Lachen zurück und begann die Waffel vom Eis abzuknabbern. Er betrachtete Hanna und versuchte zu verstehen, was in ihr vorging. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, und das ärgerte ihn, denn in seinem Job gehörte es zu seinen Stärken, sich in die Empfindungen anderer Menschen hineinzudenken. Das machte seine Erfolge bei den Verhören und seinen Einsätzen aus: das sich Hineinversetzen in seine Gegner. Schweigend aßen sie beide ihr Eis zu Ende. Ein hervorragendes Eis, wie er sich eingestand. Cremig, kalt, von perfekter Konsistenz, und wenn es im Mund
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