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Schwester Lise

Schwester Lise

Titel: Schwester Lise
Autoren: Berte Bratt
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    Das stoßweise Gellen der Schiffspfeife verstummte, die emsige Geschäftigkeit an Bord legte sich allmählich. Der Küstendampfer hatte losgemacht, und die Maschine hämmerte in gleichmäßigem Takt.
    Die Schiffsreise hatte begonnen.
    Eirin lehnte sich über die Reling und sah zum Land hinüber. Der Schuppen auf dem Skoltegrund verschwand. Die Villen an den Berghängen verloren Form und Farbe und gingen in einem fahlgrauen Dunst unter.
    Eirin mußte lächeln. Schade, daß heute nicht die Sonne schien. Aber wenn sie den richtigen Eindruck von Bergen gewinnen wollte, dann mußte es ja regnen. Und geregnet hatte es, es hatte gegossen, als sie heute morgen vom Zuge kam, und es hatte genieselt, als sie und Halfdan vormittags einen schnellen Abstecher zum Flöyen hinauf machten, während Tante Bertha ihre Verwandten besuchte.
    „Liebe Kinder, ich habe meine leibliche Schwester seit vier Jahren nicht gesehen, und dann soll ich auch nur eine Minute dafür opfern, mit euch auf den Flöyen raufzujockeln?“ sagte Tante Bertha.
    Erst an Bord hatten sie sich wiedergefunden. Tante Bertha war in bester Stimmung und gesprächig. Ihre Wangen glühten von einem aufregenden Tag im Schoße der Familie. Wie unwirklich war doch so ein Tag, an dem die Ereignisse vieler Jahre aufgezählt und in die wenigen verfügbaren Stunden hineingepreßt werden müssen, an dem man sich selbst um Jahre zurückversetzt und in Erinnerungen untertaucht, während gleichzeitig die Gegenwart in Gestalt laut redender Kinder und eines vielbeschäftigten Mannes zu Wort kommen will. „Mama, darf ich Tildchen heute abend zu mir einladen?“ - „Frau, kannst du eben mal den Smoking nachsehen, der Abend morgen im Handelsverband schreibt Smoking vor!“ - „Die Waschfrau fragt an, ob sie statt übermorgen schon morgen kommen könnte“ - kleine Bemerkungen, die Tante Bertha zum Bewußtsein brachten, daß ihr Besuch einen Einbruch, einen Riß im Alltag bedeutete und daß dieser Riß sich wieder schließen würde, sobald sie abgefahren war. Schon jetzt würde die Schwester aus der Welt der schönen alten Erinnerungen wieder aufgetaucht und in ihr natürliches Dasein zurückgekehrt sein!
    Eirin und Halfdan hatten an einem Fenstertisch auf dem Flöyen still einander gegenübergesessen. Sie hatten nicht viel geredet. Mit der Aussicht war es auch nichts, denn in dem Nebel und Nieselregen floß alles grau in grau ineinander.
    Sie hatten sich ja auch ausgesprochen. Was gesagt werden mußte, war mit wenigen Worten erledigt - ein paar Worten, die sie einander über einem Glase Sekt zuraunten. Ja, denn etwas Geringeres als Sekt tat es nicht - heute nicht. „Ich hab’ dich lieb, Eirin!“
    „Und ich dich, Halfdan!“
    Und da Eirins Wangen sich tiefer färbten und die samtbraunen Augen Halfdan voll anschauten, hatte es für einen Augenblick den Anschein, als reue es ihn doch. Warum hatte er so streng an seiner Ansicht festgehalten? Warum in aller Welt hatten sie nicht sofort geheiratet, warum war dies hier nicht die Hochzeitsreise, sondern eine trockene und wohldurchdachte Amtsreise mitsamt Haushälterin und Anstandsdame?
    Er beugte sich über den Tisch vor und küßte ihre Hand, die das Glas umschlossen hielt. „Eirin, ich bin sehr dumm!“
    Sie sah sich verstohlen um - nein, der Kellner wandte ihnen den Rücken zu. Sie strich Halfdan blitzschnell über das Haar. „Wieso denn, Halfdan? Du bist genau das Gegenteil - du bist sehr klug! Oder jedenfalls - sehr vernünftig!“
    Sie sah drollig aus, als sie dies sagte, mit einem kleinen, schalkhaften Blinken im Auge, so daß Halfdan sich wieder fing. Er drückte schnell ihre Hand.
    „Einer von uns muß es ja sein, Eirin! Trink aus, wir müssen zum Schiff.“
    Auf dem Weg zum Hafen redeten sie nicht mehr. Sie hielten sich nur bei den Händen gefaßt.
    Eirin ging in die Kabine, um sich zurechtzumachen. Der weiche, warme, graue Wintermantel war viel zu schön für dieses eklige Regenwetter. Sie legte ihn beiseite, schlüpfte in den Ölmantel und stülpte den kleidsamen Südwester über. Zufrieden schaute sie in den Spiegel. Das gelbe Ölzeug paßte wirklich gut zu ihrer dunklen Hautfarbe und ihrem fast schwarzen Haar.
    Die Handtasche - nein, die wollte sie nicht mitnehmen. Es genügte, das Taschentuch und den Kamm einzustecken. Die Handtasche mußte sie in den Koffer einschließen; sie enthielt zuviel Geld!
    Sie blieb mit der offenen Tasche in der Hand stehen.
    Auf der Innenseite war ein kleines Namensschild eingenäht.
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