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Die Schuldlosen (German Edition)

Die Schuldlosen (German Edition)

Titel: Die Schuldlosen (German Edition)
Autoren: Petra Hammesfahr
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    Prolog
Grevingen-Garsdorf, im Dezember 1982
    Es war ein Anblick, den Franziska Welter zeit ihres Lebens nicht vergessen sollte. Einerseits so beklemmend, dass es ihr die Luft abschnürte, andererseits so zauberhaft schön, dass man ihn in Märchenbücher hätte zeichnen mögen.
    Frühmorgens hatte dichter Nebel das Dorf eingehüllt und der Frost jeden Schritt ins Freie zu einem riskanten Unternehmen gemacht. Im Laufe des Vormittags war es aufgeklart und überall gestreut worden. Die Mittagssonne löste den Nebel endgültig auf, hatte jedoch nicht die Kraft, ihn völlig zu vertreiben. Sieben Grad minus bannten die weißen Schwaden und verwandelten sie in filigrane Gebilde.
    Überall Raureif. Es war kein Vergleich mit dem Schnee, der auch Straßen und Hausdächer bedeckte, aber nur obenauf lag. Die dünne Eisschicht dagegen umschloss sogar das kahle Geäst der Baumkronen vollständig. Jeder Grashalm, jeder noch so kümmerliche Zweig an den Sträuchern und jedes Pflänzchen auf den Gräbern war von einer Kristallkruste überzogen. Überall glitzerte und funkelte es im blendend grellen Sonnenlicht, als habe der Himmel den Friedhof mit Diamantensplittern bestreut.
    Das war der Rahmen, vielmehr der Hintergrund für die beiden Gestalten, die Franziska Welters Aufmerksamkeit erregten, ihr die Brust eng und den eigenen Herzschlag so dramatisch bewusstmachten.
    Franziska stand gebückt vor dem ältesten der sieben Gräber in der sogenannten Kinderecke, in der die Kleinen beigesetzt wurden. Keine der Grabstätten war länger als ein Meter zwanzig. Größere Kinder wurden seit Jahr und Tag bei den Erwachsenen bestattet. Aber das war, solange Franziska zurückdenken konnte, erst zweimal notwendig gewesen. Wenn die Kinder eine bestimmte Größe erreicht hatten, konnten sie dem Tod offenbar besser die Stirn bieten, liefen nur noch Gefahr, durch Unfälle oder sonst wie gewaltsam ums Leben zu kommen.
    In der Nacht hatte der Wind irgendwo zwei verdorrte Blätter vom Herbstlaub aufgespürt und herübergeweht. Franziska zupfte sie aus einem Büschel winterharter Erika und äugte über die kniehohe Buchsbaumhecke, die das Karree von den anderen Grabreihen abgrenzte, zur letzten Ruhestätte der Familie Schopf hinüber.
    Vor dem mit Granit eingefassten Eckgrab mit dem pompösen Stein am Kopfende standen Helene Junggeburt – sie war eine geborene Schopf – und ihr jüngstes Kind, beide wie in ein stilles Gebet versunken. Für Helene mochte das zutreffen. Sie trug Schwarz: Schuhe, Hose, Mantel, Handschuhe und einen Hut mit Schleier, der ihr Gesicht verbarg, sodass Franziska nicht sehen konnte, ob sich ihre Lippen in einem inbrünstigen Zwiegespräch mit Gott oder den Lieben in der Erde bewegten. Oder ob sie nur so dastand und die Namen auf dem Stein anstarrte.
    Das Kind hatte eine rosafarbene Plüschmütze über Kopf und Ohren gezogen, unter der im Nacken ein dunkler Zopf hervorquoll. Am Ende wurde er von einer Spange in Schmetterlingsform zusammengehalten. Vor der Brust baumelten die dicken Bommel der Bänder, mit denen die Mütze unter dem Kinn gebunden war. Eine Jacke aus demselben Plüschmaterial schützte den Oberkörper vor der Kälte. Die kleinen Hände steckten in lustig bunten Fäustlingen, die Füße in weißen, pelzbesetzten Stiefelchen, die sicherlich dick gefüttert waren. An den Beinchen dagegen trug das Kind nur weiße Strickstrumpfhosen und darüber ein kurzes Röckchen aus weißer Wolle mit einer gezackten, rosafarbenen Borte am Saum.
    Franziska fragte sich flüchtig, ob die Strumpfhosen wohl warm genug hielten. Ihr entging nicht, wie das Kind ständig sein Gewicht verlagerte, von einem Füßchen aufs andere trat. Vielleicht fror es beim Stillstehen. Vielleicht wurde ihm aber auch nur langweilig. Sein Verhalten sprach für Letzteres.
    Es war ein ausnehmend hübsches Geschöpf, dessen Gesicht als Vorlage für die Bilderbuchzeichnung einer kleinen Prinzessin hätte dienen können. Allein diese Augen. Als das Kind verstohlen zu ihr hinüberblickte und sie anlächelte, überlief Franziska ein kalter Schauer. Große Augen, wie alle kleinen Kinder sie haben. Doch diese waren von einem so intensiven Blau, wie Franziska es bisher nur bei zwei Menschen gesehen hatte, bei Helenes älterem Bruder und bei Helenes Tochter. Es waren Augen, die von innen heraus zu leuchten schienen, weil die Iris von unzähligen hauchfeinen hellgrauen, strahlenförmig angeordneten Linien durchbrochen war.
    Als Franziska das
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