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Hannas Entscheidung

Hannas Entscheidung

Titel: Hannas Entscheidung
Autoren: Kerstin Rachfahl
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Sozialversicherungsnummer, Nachweis über ein begonnenes Kunststudium. Du hast dich ja schon mit den Studieninhalten vertraut gemacht. Ach ja, fast hätte ich es vergessen.« Er holte ein schwarzes, ledergebundenes Familienstammbuch hervor. »Deine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Du bist seit deinem neunten Lebensjahr bei der Schwester deiner Mutter aufgewachsen, die inzwischen mit Demenz in einem Pflegeheim liegt.«
    »Gibt es die Tante wirklich?«
    »Ja, aber keine Sorge, du wirst für die Pflegekosten nicht aufkommen müssen. Das Vermögen der Dame ist ausreichend.«
    »Wie heißt sie?«
    »Wer?«
    »Die Frau.«
    »Elisabeth Wagner, wie gesagt leidet sie unter Altersdemenz und du wirst dich nicht weiter mit ihr beschäftigen müssen.«
    Hanna schwieg. Sie würde Elisabeth Wagner besuchen, nicht heute und nicht nächste Woche, doch wenn das Schicksal beschlossen hatte, ihrer beider Leben miteinander zu verbinden, so wollte sie diesen Menschen kennenlernen. Aber das würde Oberst Hartmann weder verstehen noch würde er dazu sein Einverständnis geben. Soweit verstand sie den Mann vor sich inzwischen.
    Der Oberst lehnte sich zurück und betrachtete sie aufmerksam.
    Hannas Puls beschleunigte sich. Er war noch nicht fertig mit ihr.
    »Interessiert es dich nicht, wie die Verhandlung läuft?«
    Natürlich interessierte es sie. Niemand konnte ihr zurückgeben, was sie verloren hatte, die Menschen lebendig machen, die gestorben waren. Aber ihre Hoffnung war, dass sich mit ihrer Hilfe zwei Menschen für ihre Taten verantworten mussten und das nicht nur vor dem letzten Gericht.
    »Es wäre gut gewesen, wenn du mehr Emotionen gezeigt hättest. Der Anwalt deines Stiefvaters hat deine Mutter und deine Schwester als Zeuginnen benannt.«
    Hanna behielt ihre ausdruckslose Miene bei. Niemanden gingen ihre Gefühle etwas an. Sie hatte ihr Leben aufgegeben für ihre Aussage. Niemand durfte mehr von ihr verlangen. Von Marie wusste sie, dass sie die Scheidung eingereicht hatte. Sie hatte sich in dem Augenblick entschieden, als die Polizei mit dem Haftbefehl für Lukas vor der Haustür aufgetaucht war. Es hatte die Medien beschäftigt und Lukas eine Vorverurteilung der öffentlichen Meinung eingebracht, für Hannas Tod verantwortlich zu sein. Der Staatsanwalt erhob gegen Lukas Anklage nach § 211 des Strafgesetzbuches wegen Mordes und beantragte eine lebenslange Haftstrafe, was Hanna seltsam erschien, da sie immerhin noch lebte. Doch das spielte anscheinend in diesem Fall keine Rolle. Hannas Mutter hingegen hielt an ihrer Ehe mit Armin Ziegler fest. Die Staatsanwaltschaft klagte Armin Ziegler wegen erpresserischen Menschenraubs an und versuchte, eine Haftstrafe von sieben Jahren zu erzielen. Armin machte in der Öffentlichkeit keinen Hehl daraus, dass er Hannas Entführung in Auftrag gegeben hatte, wobei er das geschickter formulierte. Als Hausarrest, der nicht im eigenen Haus stattgefunden hatte, als Erziehungsmaßnahme gegenüber der pubertierenden Stieftochter, die ihn und seine Frau auseinanderzubringen versuchte. Wie zynisch!
    Leider sei er bei der Auswahl der betreuenden Personen einem Fehlurteil unterlegen. Die Scham über das, was passiert war, der Schock und die Schuld hätten ihn all die Jahre schweigen lassen. Hannas Mutter unterstützte dieses Bild, indem sie darüber sprach, wie schwierig es für ihre Tochter gewesen sei, den Tod ihres Vaters zu verkraften. Ihre Introvertiertheit, fehlender Kontakt zu Gleichaltrigen, ihr Mangel an sozialer Kompetenz und die völlige Ablehnung ihres Stiefvaters, der keine Mühe gescheut habe, einen Zugang zu ihr zu finden, all dies führte sie ins Feld. Erstaunlicherweise gab es genügend andere Menschen, die bereit waren, mit der Presse über Hanna zu sprechen. Menschen, die mit ihr noch nie ein Wort gewechselten hatten. Menschen, die nur kurz ihren Weg gekreuzt hatten, und nun vorgaben, sie zu kennen. Aber es war keine Wut, kein Zorn, kein Hass, den Hanna gegenüber ihrer Mutter fühlte. Stattdessen fühlte sie Trauer, Enttäuschung und die Frage, wo der Mensch geblieben war, der sie auf die Welt gebracht und sie bedingungslos geliebt hatte.
    Manchmal keimte ein leiser Zweifel in ihr auf, ob es diese Mutter jemals gegeben oder ob sie doch nur in ihrer Einbildung existiert hatte. Irgendwann hörte Hanna auf, heimlich die Artikel der Presse im Internet zu lesen, es tat einfach zu weh. Außerdem wusste sie nicht, was in den Berichten der Presse wirklich der Wahrheit
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